MusikLeben 8 – Kofelgschroa

Kofelgschroa
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»Wichtig ist einfach,
dass man 'nen Inhalt hat, 'en Lebensinhalt…«

Kofelgschroa

kofelgschroa – Vier Künstler und Handwerker aus Oberammergau: Maximilian Paul Pongratz, Michael Christian von Mücke, Martin Anton von Mücke, Matthias Otto Meichelböck.

 



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Video: Jonas Kraus Ton: Roman Weber. Drehort: Hotel Kovél. Url.



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DOK.fest München, 2014. Trailer I »frei sein wollen«. 2.42 min. © Südkino.

Quelle:
Kofelgschroa ► … Videos

Vgl. Videosammlung music.me
Vgl. Kofelgschroa youtube
Vgl. Humulus Lupus 2015 in Vieth bei Scheyern ► Video, 6.32 min.
Vgl. »11 Fragen an Kofelgschroa« / Von Jörg Michael Ankermüller, 6. Oktober 2016

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MusikLeben 7 - Berlin Atonal

K. Cornils - Interview
spex  –  Magazin für Popkultur

 

Die Idee war uns ist, Wahrnehmung anders zu polen

Text und Interview von Kristoffer Cornils mit Dimitri Hegemann und Adi Schröder über die Wiederbelebung des Festivals.

Bil

Das ehemalige Heizkraftwerk an der Köpenicker Straße: Heimstätte des Berlin Atonal 2013

Dimitri Hegemann lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Dabei wimmelt es um ihn herum nur so von Menschen, die Rechnungen vorbeibringen, seine Unterschrift brauchen oder einfach Hallo sagen möchten. Und da ist ja noch das Telefon. »Wenn was los ist, kennen mich wieder alle«, lacht er. Und es ist etwas los, denn Hegemann hat das von ihm 1982 initiierte Festival Berlin Atonal wieder zum Leben erweckt. Die wummernde Subbässe, die aus dem alten Heizkraftwerk, in dem seit geraumer Zeit auch der von Hegemann gegründete Tresor beheimatet ist, dringen, kündigen bereits an: Dieses Atonal wird ein anderes als das, welches nach 1990 nicht mehr weitergeführt wurde. Das liegt auch an dem Team, das Hegemann um sich geschart hat, den Australier Harry Glass, den Franzosen Paulo Reachi und Laurens von Oswald, Neffe des Dub Techno-Pioniers Moritz von Oswald. Sie sind jung, kommen aus der Techno-Szene. Das Atonal von 2013 ist nicht dasselbe wie vor gut 30 Jahren.
Neben audiovisuellen Installationen von jungen Künstlern und Musikern wie Grischa Lichtenberger und Dadub steht so unter anderem ein Showcase des Hype-Labels Blackest Ever Black und ein Abend mit den abseitigen Techno-Entwürfen von Actress, Kassem Mosse, Anstam sowie Francesco Tristano, der ständig auf dem Grat zwischen klassischer Komposition und elektronischen Sounds wandert, auf dem Programm. (Für letzteren Abend verlosen wir am Artikelende noch Plätze.) Sie treffen, neben Juan Atkins & Moritz von Oswald oder dem Glenn Branca Ensemble, auf Musiker wie Z’EV und Frieder Butzmann, die bereits bei den ersten Ausgaben des Festivals dabei waren.
Adi Schröder, der Hegemann damals wie heute bei der Konzeption des Atonal sowie beim nachfolgenden SPEX-Interview unterstützt, betont immer wieder die Parallelen zu dem Festival, das die Westberliner Subkultur um die Genialen Dilettanten einerseits repräsentierte, andererseits aber auch entschieden prägte. Das geschäftige Chaos, das in und vor den Räumlichkeiten in der Köpenicker Straße herrscht, scheint das nur zu bestätigen. 

 

Dimitrit Hegemann, warum haben Sie 1990 aufgehört? Passte das Konzept des Atonal nicht mehr in die Aufbruchsstimmung der 1990er Jahre?
Dimitri Hegemann: Das letzte Festival 1990 im Künstlerhaus Bethanien war ein Brückenfestival. Danach ging es mit dem Tresor los. Die Mauer war gerade gefallen, wir mussten uns erst mal um die Weltrevolution Techno kümmern. Das war ein neues Tanzprogramm. In Westberlin hatte sich keiner bewegt, man stand da und staunte über die Sensationen auf der Bühne: Psychic TV, Test Dept. und Laibach. Und plötzlich bewegte man sich. Es gab eine Veränderung.

Und da passte das Atonal als Konzept nicht mehr rein?
Adi Schröder:  Wenn hinter dem Atonal die Idee stand, die Hör- und Sehgewohnheiten zu sprengen und die Wahrnehmung anders zu polen, dann war das, was anfangs im Tresor passierte, genau dasselbe, nur mit anderen Mitteln. Das ist nicht als Bruch zu verstehen. 

Bereits 1999 fand ein Wiederbelebungsversuchstatt.
DH: Das war ganz bizarr. Ein Freund, Michael Schäumer, sagte zu mir: »Lass doch mal das Atonal wiederbeleben.« Ich war damals nicht in Berlin. Kaum war ich zurück, war die Sache gelaufen. Es war eine Veranstaltung, die unter dem Namen lief, aber es fehlte die Liebe, das Engagement, der Spirit.
AS: Weil wir nicht dabei waren.
DH: Jetzt sind wir dabei und die neue Generation – Laurens, Harry und Paulo. Das Programm, das die zusammengestellt haben – das ich zum Teil gar nicht kenne – stellt einen Versuch dar, Brücken zu schlagen.

Der Rückbezug auf die Hochphase der Berliner Subkultur in den 1980er und -90er Jahren findet aktuell vermehrt statt. Bücher wie Klang der Familie, Die ersten Tage von Berlin und Wolfgang Müllers Subkultur Westberlin 1979-1989 nehmen sich intensiv des Themas an.
AS:
Wolfgang war einer der Genialen Dilletanten, er ist Atonalist der ersten Stunde. 

Interessant ist, dass Müller dementiert, mit seiner Band Die Tödliche Doris beim ersten Atonal im Jahr 1982 aufgetreten zu sein.
DH:
Das ist richtig. Im Programm stehen sie zwar drin, waren aber nicht dabei.
AS: Die Tödliche Doris ist ja eine konzeptionelle Band, die sich manchmal von anderen Leute auf der Bühne hat vertreten lassen. Die haben in der Abwesenheit ihre Präsenz demonstriert. 

Die Absage begründet Müller heute jedoch mit der Förderung des Atonals durch den Senat.
DH: Richtig, wir haben damals beim ersten Festival im SO36 ungefähr 20.000 DM erhalten.
AS: Derjenige, der in Berlin subventionierte, war Bernd Mehlitz, der sogenannte »Rock-Beauftragte« des Senats. Es gab ein paar Leute auf der anderen Seite, die uns geholfen haben. Heute sieht das ganz anders aus, alle lassen sich subventionieren und haben überhaupt kein Problem damit. Die Berührungsängste sind verschwunden. (Weiter nach der Fotografie.)

Adi Schröder über die Arbeiten am Raum: »Alles entspricht einer ganz anderen Dimension, physisch wie mental.«
Adi Schröder über die Arbeiten am Raum:
»Alles entspricht einer ganz anderen Dimension, physisch wie mental.«

Werden Sie denn subventioniert?
DH:
Ja, vom Musicboard. Es ist aber trotzdem schwierig, sowas zu realisieren. Die Kosten sind enorm. Es gibt ja auch ähnliche Festivals – CTM oder MaerzMusik –  die wohl eher im sicheren Hafen sind als wir.
AS: Dimitris Risikobereitschaft und das, was an Subventionen kommt, steht in einem absoluten Missverhältnis. Du kannst dir nicht vorstellen, was der hat unternehmen müssen, um dieses Haus der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
DH: Da kommst du mit 50€ nicht weiter, nimmt dich keiner. Wir haben so etwas, aber nicht in der Dimension dieses Festivals, und es ist sinnvoll, diesen Raum hier zu realisieren und nicht in der Peripherie. Es ist ein Ort, der prägt. In der Philharmonie hätte es nicht dieselbe Wirkung. Ich mag diesen aseptischen Kubus nicht. Ich mag lieber Räume, in denen alles noch möglich und denkbar ist. Ich glaube, dass das sehr, sehr wichtig für Berlin ist.
AS: Deswegen sagen wir auch: »Welcome Back Home«. Die Rückkehr ist eine Punktlandung. 

Sollten diese alternativen Veranstaltungen und Räume, die vom funktionalistischen White-Cube-Prinzip abweichen, intensiver gefördert werden?
DH:
Grundsätzlich ja. Aber es kommt darauf an, wer dahinter sitzt, wie lange und wie ernsthaft derjenige das schon macht. Ich will kein Geld sehen, ich will nur, dass man sagt: »Was habt ihr vor und können wir euch bei eurer Entfluchtungssituation helfen?« Wir würden es schaffen, wenn diese baulichen Geschichten und der Brandschutz durch günstige Kredite erleichtert würden. Die können sich auf uns verlassen, wir machen das schon seit dreißig Jahren! Gerade führe ich eine Feldforschung in Schwedt an der Oder durch und meine Erkenntnis ist rückblickend, dass die Balance einer Stadt zwischen etablierter und Gegenkultur gegeben sein muss. Meine Erfahrung ist jedoch, dass viele Entscheidungsträger realitätsfern sind. Es mangelt an Zugeständnissen. So aber kommt es zur Abwanderung und alle gehen nach Berlin und der Mainstream übernimmt das Programm. Deswegen brauchen wir solche Kräfte und die müssen unterstützt und verstanden werden, sodass eine kulturelle Vielfalt selbst in Provinzstädten gegeben ist.

Zurück in Berlin: Die Möglichkeiten, die es gerade in den 90ern gab – Schlüssel besorgen, mal reinschauen und einen Club daraus machen – sind aber nicht mehr gegeben.
DH: So einfach war das auch nicht. Man hat viel Engagement und eine gewisse Frechheit gehabt, es war aber nicht so, als hätten alle Türen offen gestanden. Wir haben nachgefragt und dann Verträge abgeschlossen, Genehmigungen eingeholt und hatten Probleme mit den Ämtern. Berlin hat auch nach zwanzig Jahren noch Vorteile: der bezahlbare Raum und der Geist, der in der Stadt ist. Wir wachsen zu schnell wachsen. Die Überdosis an Kreativität könnte dazu führen, dass es kippt. Deshalb müssten Stadt und Tourismusbörsen reagieren. Wir hatten letztes Jahr 25 Millionen registrierte Übernachtungen, jetzt wollen sie schnell auf 30 kommen. Was passiert dann? Dann kommen die modernen Raubritter, die gute Geschäftsideen haben und irgendwas bauen und – zack! –zieht zwar eine Quantität ein, die Qualität aber sinkt. Schau dir Detroit an, eine blühende Stadt, die zusammengebrochen ist. Das könnte hier auch passieren, wenn gewisse Faktoren wie zum Beispiel eine andere Gesetzgebung oder das Verschwinden von bestimmten Sehnsuchtsorten ins Spiel kommen, Fluglinien nicht mehr kommen. Dann könnte die Karawane weiterziehen. 

Verdrängt die von Ihnen angesprochene Kommerzialisierung die alternativen Konzepte?
DH:
Es mangelt zumindest an Wertschätzung. Das ändert sich nur langsam. Die Mittel aber sind da. Und die Kulturprogramme bewegen sich ja schon aufeinander zu, das Staatsballet tanzt mittlerweile im Berghain. Du musst eben Risiken eingehen. Ich merke das auch in der jungen Generation, die wünscht sich eine Alternative zum medialen Mainstream. Wir müssen tatsächlich eine Situation schaffen, wo das Atonal ganz anders wahrgenommen wird. Es geht nicht nur um die Musik, sondern auch um die Erfahrung, sich im Klang und der Architektur zu bewegen. Wir wollen Menschen zusammenzuführen, die diese Inspiration mitnehmen. Dazu kannst du nicht ins Rathaus von Oldenburg oder in eine Sparkassen-Vorhalle gehen.
AS: Das Atonal hat immer in ganz besonderen Räumen stattgefunden. Das SO36 war außergewöhnlich, weil es kahl, nackt und hart war. Andrew Unruh von den Einstürzenden Neubauten hat mit dem Bohrer durch die Wand gebohrt. Aber welche Löcher Dimitri hier in die Wand bohren musste, um den Rauch abzuleiten oder die Notausgange zu gewährleisten, das entspricht einer ganz anderen Dimension, physisch wie mental. Das, was die Neubauten und andere damals mit dieser neuen Power bewegt haben, das findet wieder statt. Nur auf einer anderen Ebene. (Weiter nach der Fotografie.)

Juan Atkins & Moritz von Oswald
Juan Atkins & Moritz von Oswald

Das Festival steht unter dem Motto »Forming Space«, der auf zwei verschiedene Arten  gelesen werden kann. Der formende Raum einerseits, der Raum, der geformt wird, andererseits.
DH: Laurens, Harry und Paulo haben das so begründet, dass das es um die Schaffung von Raum in der Komposition wie auch im Denken geht. Die haben gefragt: Was gibt es noch? Wo gibt es eine Weiterentwicklung? Das Atonal 2013 zeigt Weiterentwicklungen im Techno. Wenn du beispielsweise das neue Album von Juan Atkins und Moritz von Oswald hörst – das ist eine neue Form von Dub.

Zentral scheinen auch die audiovisuellen Arbeiten, die einen großen Teil des Programms ausmachen.
AS:
Z’EV, der bereits beim ersten Atonal dabei war, nennt diese Verbindung zur visuellen Wahrnehmung »rhythmagic«. Es gibt eine unmittelbare Umsetzung von rhythmischen zu visuellen Gesichtspunkten. Das ist einer der Hauptaspekte des neuen Atonal.
DH: Frieder Butzmann hat eben den Soundcheck für seine Interpretation der Ursonate gemacht. Schwitters hatte einen Techno-Groove, den Vierviertel.
AS: Four-to-the-Floor!
DH: Oh! Oh! Oh! Oh! Alles in die Wörter gesetzt. In Blöcken, mathematisch aufgegliedert. Da waren ein paar Bauarbeiter, die das gut fanden. Das ist für mich Volksmusik! Wenn die Leute sagen: »Das ist großartig, machst du das noch mal?«.
AS: Wir wollen das Atonal drei Mal machen, dann kommt die Überführung an die Jugend. Wir bauen die Brücken zwischen den Generationen. Es werden Leute jeder Altersstufe vertreten sein, nicht nur im Publikum, sondern auch auf der Bühne. Jon Hassell ist über siebzig und die jüngsten Künstler sind Anfang 20. 

Dabei werden Traditionslinien aufgedeckt. Acts wie Raime und Vatican Shadow docken an der Soundästhetik des Industrials an.
AS:
Industrial ist sicherlich eine Kontinuität. Es gibt auch eine Konstante, was Rhythmus, Beats und Metren betrifft. Die Beats der Einstürzenden Neubauten waren neu, anders. Nicht nur Rumgekloppe auf Blech. Wenn du dir nun Z’EV und Cut Hands anhörst, offenbaren sich Zusammenhänge. 

Der Schulterschluss mit der jüngeren Generation spiegelt sich ebenfalls im Rahmenprogramm wider. Christoph Drehers Dokumentation No Wave wird gezeigt, es finden Workshops statt. Ist es Ihr Anliegen, das Geschichtsbewusstsein Ihres Publikums schärfen, um dadurch neue Perspektiven zu eröffnen?
DH:
Genau. Die Gespräche mit Karl Lippegaus und Jon Hassell gehören beispielsweise auch dazu. Im Gespräch mit den jungen Beteiligten habe ich festgestellt: Die wollen das auch. Und die werden uns auch Dinge zeigen, die wir nicht kennen.
(Das Gespräch wird unterbrochen: Hegemann muss noch den Brandschutzbeauftragten verabschieden. Als er an den Tisch zurückkommt, klingelt wieder sein Handy. Alte Bekannte. Von denen würden sich momentan viele melden.) Zum Beispiel fragte mich auch Gudrun Gut, warum wir so wenige Frauen auf dem Festival haben.

Das ist in der Tat auffällig. Vier Frauen bei insgesamt 37 teilnehmenden Acts, die rein männlich besetzten Aftershow-Parties nicht mitgerechnet.
DH:
Aber es geht doch um Musik, nicht um politische Themen.

Vor nicht allzu langer Zeit veröffentlichte female:pressure eine Statistik, die den Frauenanteil in der elektronischen Musik, vor allem auf Festivals abbildet. Das hat eine rege Diskussion angestoßen.
DH: Bei uns sind sehr viele Frauen dabei, vor allem im Glenn-Branca-Ensemble. Ich habe das nicht so wahrgenommen. Es geht nicht darum, dass wir Quoten… Das ist ein politisches Thema, finde ich. 

Nichtsdestotrotz wäre das eine weitere Brücke, die es zu schlagen gilt.
AS:
Es ist nicht so, als hätten wir das ignoriert, aber in diesem atonalen Bereich sind sehr wenige Frauen zu finden.
DH: Gudrun sagte, da seien schon sehr viele. Sie hat mir viele Tipps gegeben. Aber da war das Booking schon durch.
AS: Da müssen wir in Zukunft einen geschärften Blick drauf werfen.
DH: Ich finde das eigentlich okay. Mir ging es vor allem um die Musik. Wir haben die Musik teilweise blind gehört und wussten nicht, wer dahintersteckt. Ich kam mir vor wie ein DJ, der in einem Plattenladen White Label nach White Label anhört. Vor allem wollte ich einen großen Berlin-Anteil dazu holen. Aber die meisten leben aber schon hier. Wer heutzutage aus Südfrankreich aufbricht, wird hier sicherlich Leute finden, die seine Vision teilen. Berlin ist ein Epizentrum der Kreativität. 

Nachfolgend das gesamte Tages- und Abendprogramm für Berlin Atonal 2013. Für den Dienstag mit u.a. Actress, Francesco Tristano, Kassem Mosse, Anstam verlost SPEX hier noch 3x2 Plätze. Weitere Informationen auf berlin-atonal.com.

Donnerstag, 25. Juli
ab 14 Uhr (und durchgehend während des gesamten Festivals): Installationen: ANTIVJ 3Destruct, Dadub & Grün ILYA Machine 001, David Letellier 3 Machines Oscillantes, Grischa Lichtenberger 3 Steel Plates, Scanner & Sound
ab 20 Uhr: Frieder Butzmann Ursonate (Kurt Schwitters), The Glenn Branca Ensemble presents Twisting In Space, Roly Porter, Paul Jebanasam, Lucy Benson & Marcel Weber, Eric Holm
ab 1 Uhr: The VUP Lounge hosted by Max Dax, Alec Empire, Mark Reeder, Daniel Jones & Gäste

Freitag, 26. Juli
ab 16 Uhr: Sam Auinger »Thinking with your Ears« (Lecture), Christoph Dreher No Wave (Screening)
ab 20 Uhr: Jon Hassell Quartet, Juan Atkins & Moritz von Oswald, Vladislav Delay, Kangding Ray, Dasha Rush & Schloss Mirabel
ab 1 Uhr: DJ Deep, Shifted, Neel, Eric Cloutier, Nail

Samstag 27. Juli
ab 17 Uhr: Jon Hassell & Karl Lippegaus »Conversation Pierce« (Multimedia-Unterhaltung), Electronic Beats im Gespräch mit William Bennett
ab 20 Uhr: Voices From The Lake, Murcof & Simon Geilfus, Dadub, Grün
ab 1 Uhr: Juan Atkins, Moritz von Oswald, Thomas Fehlmann, Exos

Sonntag, 28. Juli
ab 14 Uhr: Raime, Vatican Shadow, Cut Hands, Ancient Methods, Russell Haswell, Violetshaped, Rashad Becker, Grischa Lichtenberger, Samuel Kerridge, Positive Centre, Lower Order Ethics, Zan Lyons
ab 1 Uhr: Powell, Raime (DJ-Set), Will Bankhead, DJ Richard, Liberation Technologies DJs

Dienstag, 30. Juli
ab 17:30: »Hidden Music« (Sounddesign-Workshop mit Ben Lukas Boysen), »Avant-Garde versus Functional Music« (Diskussion mit u.a. Phillip Sollmann, Dimitri Hegemann)
ab 20 Uhr: Actress, Francesco Tristano, Kassem Mosse, Anstam

Mittwoch, 31. Juli:
ab 16 Uhr: Jan Thoben »Optophonetics«, Roc Jimenez de Cisneros & Stephen Sharp »Rave Synthesis«, Mariska de Groot »Lumisonic Rotera« (performative Installation)
ab 20 Uhr: The Brandt Brauer Frick Ensemble, Jacaszek, Z'EV
ab 1 Uhr: Atonal Closing Party

Berlin Atonal 2013 Flyer

 

Quelle:
spex – Magazin für Popkultur. Veröff. 25.7.2013

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MusikLeben 6 - Amasa Gana

Entschleunigungen
klangverhaeltnisse

 

Amasa Gana: Untitled - Entschleunigungen

AmasaGana.jpg

Aus allen Richtungen sickern gemächlich Klänge in den Raum. Sie begegnen, verwehren, umfließen einander –und formieren sich schließlich zu einem majestätischen Panorama. Behutsam gearbeitete Schleier wirbeln diffus durch den Raum, brechen Licht, werfen Schatten.

Für die unbetitelte Erstveröffentlichung von Amasa Gana werden Folkinstrumente, Synthesizer und Field Recordings geschickt durch das Dunkel manövriert und mit diversen Effekten zu unwirklich leuchtenden Dronewolken umgearbeitet. Beinahe unbemerkt wickelt das Quintett aus Texas den Hörer in weiche Entschleunigungen.

»Untitled« wurde im September 2012 von Holodeck (HD006) als auf 100 Stück limitiertes CS30-Tape veröffentlicht. Zu finden auf Bandcamp.

Quelle:
Klangverhaeltnisse Blogeintrag vom 1.2.2013





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MusikLeben 5 - Erik Skodvin

Auf leisen Sohlen
klangverhaeltnisse

 

Svarte Greiner: Black Tie - Auf Leisen Sohlen

BlueStage.jpg

Nach der Veröffentlichung von »Flare« 2010 unter bürgerlichen Namen, dem Deaf Center-Album »Owl Splinters« 2011 (mit Otto A. Totland) und den Aktivitäten um B/B/S 2012 (mit Aidan Baker und Andrea Belfi), tritt Erik Skodvin 2013 wieder als Svarte Greiner in Erscheinung. Mit »Black Tie« durchkämmt er in gewohntem Stil auf leisen Sohlen düsteres, karges, beunruhigendes Terain. Zwei grandiose 20-Minuten-Tracks, die die Zeit still stehen lassen.

Quelle:
Klangverhaeltnisse Blogeintrag vom 26.4.2013; dort auch Audiolink integriert





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MusikLeben 3 - Colin Vallon

Ane Hebeisen - Interview
Der Bund, 17.11.2010

 

Ohne Masterplan

Colin Vallon

Der Berner Pianist Colin Vallon gehört zu den angesehensten Schweizer Jazzern der Gegenwart. Am 17. November feiert Vallon seinen 30. Geburtstag mit einer Carte blanche.

Sie erhalten enthusiastische Kritiken im amerikanischen «Downbeat» oder in der «Zeit», Sie touren mit Ihrem Trio oder mit Ihrer Partnerin Elina Duni erfolgreich durch die halbe Welt. Welchen Nerv trifft der Colin Vallon?

Ei, das hab ich mich auch schon öfter gefragt, ohne eine Antwort gefunden zu haben. Ein wichtiger Faktor ist sicherlich das Glück. Mir kam zugute, dass mich Musiker wie Bänz Oester oder Norbert Pfammatter sehr früh in meiner Karriere gefördert haben und ich schon in jungen Jahren recht präsent war in der Schweizer Musikszene. Eine Erklärung für meinen Erfolg könnte sein, dass ich in meinem Spiel versuche, stets ehrlich zu bleiben. Ich will nicht klug oder interessant klingen und ich habe keine Hemmungen, auch Simples zu spielen.

Es vergeht kaum eine Woche, in der nicht ein neues frisches Piano-Trio zum neuen heissen Ding erkoren wird. Es scheint nur so von jungen Pianisten zu wimmeln, die nicht nur mit Jazzmusik, sondern auch mit Indie- und Popmusik sozialisiert wurden. Wer wird diesen Hype überstehen?

Es werden jene überleben, die ohne Kalkül an die Sache herangehen. Ich bin mit Rock- und Popmusik aufgewachsen, mit Bands wie Nirvana oder Metallica, und ich habe eigentlich erst mit 14 begonnen, Jazz zu hören. Die Rockmusik wird immer ein Teil von mir sein, das ist ähnlich wie mit der ersten Liebe. Sobald diese Annäherung jedoch aus einer Berechnung entsteht, weil es eben gerade modisch und hip ist, dann wird das der Hörer merken.

Sie werden am Wochenende 30 Jahre alt. Zeit für eine kleine Zwischenbilanz: Sind Sie ungefähr dort angekommen, wo es Ihr künstlerischer Masterplan vorgesehen hat?

Ich hatte nie einen Masterplan und werde auch nie einen solchen haben. Aber technisch bin ich noch längst nicht da, wo ich sein möchte. Ich muss noch viel üben. Doch die Dreissigermarke hat etwas Gutes: Ich entwachse langsam dem Stadium, in dem man in meinem Zusammenhang noch von einem Jungtalent sprechen kann. Ein furchtbarer Begriff. Als junger Jazzmusiker wirst du schnell zu einer Art Zirkusattraktion, es wird einzig auf die Virtuosität fokussiert. Das habe ich nun hoffentlich hinter mir.

Wohin könnte die Reise in den nächsten zehn Jahren gehen?

Ich kann nicht weit in die Zukunft schauen. Ich bin stets beeinflusst von Orten, von Menschen und von unterschiedlichster Musik. Im Moment höre ich sehr viel indische Musik, japanische Gagaku-Musik, Bach oder einen Singer-Songwriter wie Elliott Smith. Und ich übe momentan vornehmlich klassisch, wobei ich derzeit weniger auf die Fingerfertigkeit fokussiere, sondern auf die klanglichen Möglichkeiten des Pianos. Was letztlich daraus entsteht? Ich weiss es nicht.

Sie haben für Ihren Geburtstag eine Carte blanche erhalten und dürfen im Progr tun, wonach Ihnen der Sinn steht. Was haben Sie vor?

Das soll eine Überraschung bleiben. Zuerst befremdete mich die Idee, mich an meinem Geburtstag derart in den Mittelpunkt zu stellen, ich nehme mich da normalerweise nicht so wichtig. Doch nun haben sich einige Ideen entwickelt. Nur so viel: Der Abend wird in mehrere Teile gegliedert sein, und es wird mehrere unterschiedliche Besetzungen geben. Es werden neue Sachen zu hören sein – und es dürfte ein eher ruhiger Abend werden.

(Der Bund, erstellt 17.11.2010, 13:50 Uhr)


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MusikLeben 2 - Keith Jarrett

Die Zeit, 20.9.2007, Nr 39
Interview von Konrad Heidkamp mit Keith Jarrett

 

»Du musst nicht gut finden, was du spielst«

Der Pianist Keith Jarrett spricht im Interview über die Bedeutung des Humors beim Improvisieren und über die Deutschen, die beim Hören zu viel denken und seine Wiederentdeckung der linken Hand

Wir sind in Nizza verabredet, wo Keith Jarrett während seiner Europatourneen wohnt und regeneriert. Und das ist die erste Überraschung: Nicht in eines der altehrwürdigen, ruhigen Hotels zieht er sich zurück, sondern in ein kühl modernes, mitten im Zentrum. Die zweite Überraschung: Eine Stunde vor dem Interviewtermin ruft sein Manager Steve Cloud an, das Interview sei gefährdet, Keith habe schwere Rückenprobleme und sei beim Physiotherapeuten. Zwei Stunden später, auf der Dachterrasse, wird Keith Jarretts Hotelwahl verständlich. Ein Swimmingpool, ein kleines Restaurant, Liegestühle dezent gruppiert und im Vordergrund ein strahlend blaues Meer. Verkehrsgeräusche dringen nach oben, Sirenen, Mopeds, Hupen – der Ort ist äußerlich abgeschieden und doch im Mittelpunkt. Steve Cloud bittet zu Tisch unterm Sonnenschirm, Rose Anne, Jarretts Frau, setzt sich zu uns, Keith werde bald kommen. Als er dann erscheint, wirkt er drahtig, perfekt gebräunt, lässt sich vorsichtig und mit geradem Rücken nieder. »Mein erstes Interview, das ich unter Schmerzen gebe«, erklärt er hinter verspiegelter Sonnenbrille – was fast ein bisschen wehleidig klingt.

DIE ZEIT:
Es ist schwer, in dieser Atmosphäre ernsthafte Fragen zu stellen. Man bekommt so ein Urlaubsgefühl.

Keith Jarrett:
So geht es mir hier ständig.

ZEIT:
Was macht Sie in Frankreich glücklich?

Jarrett:
Es gibt Länder, in denen zu viel über Kunst nachgedacht wird, Deutschland zum Beispiel. Anderswo wird zu wenig nachgedacht wie in den USA. Frankreich liegt auf dem silbernen Mittelweg, weil es in bestimmter Hinsicht sehr kompliziert ist und dann wieder sehr entspannt. Ich würde nicht sagen, dass ich hier glücklich bin, ich fühle mich wohl, weil weniger über Kunst nachgegrübelt wird.

ZEIT:
Auf Cover-Fotografien Ihrer Trio-CDs sind Sie im Gegensatz zu Ihren Solo-CDs gut gelaunt und lachen ungewöhnlich oft. Gibt es dafür einen Grund?

Jarrett:
Das Trio ist wie ein Mikroorganismus, ein eigenes Lebewesen. Mit einer Menge Humor. Überraschende Momente und Humor sind identisch. Ein guter Scherz ist immer eine Überraschung. Und wenn man improvisiert, wartet man darauf, überrascht zu werden. Humor liegt also im Wesen des Zusammenspiels.

ZEIT:
Bei Ihrem Triokonzert im Juli in Essen wirkten Sie sehr locker. Waren Sie da zufrieden?

Jarrett:
Wir versuchen immer gegen die Überorganisation einer Kultur anzuspielen, in der alles zu vergeistigt ist: Wie ist diese Note am Klavier zu verstehen, wie diese andere? Von dieser Haltung wollten wir das Publikum so weit wie möglich wegfüh-ren. Danach wählen wir auch die Stücke aus. Und die waren in Essen weitgehend funky. Der ernsthafte Künstler in mir ist sich sehr bewusst, warum wir etwas machen. Aber der Typ in mir, der lacht und es genießen will, freut sich, wenn die Musik so lebendig ist. Selbst in diesem steifen Rahmen.

ZEIT:
Sie haben in Essen in einer Philharmonie gespielt. Es wurden vor dem Konzert Hustenbonbons und Taschentücher verteilt, das Publikum wurde gebeten, keine Fotos zu machen. Ist da nicht ein gewisser Widerspruch zwischen dem Ursprung der Musik und der sehr gepflegten Atmosphäre klassischer Konzertsäle?

Jarrett:
Der Widerspruch besteht darin, wie wir präsentiert werden, und der Musik, die wir spielen. Aber dafür sind wir nicht verantwortlich. Ich würde die Ansage sicher beiläufiger halten. Aber wenn es zu beiläufig wird, geht man das Risiko ein, dass keiner zuhört.

ZEIT:
Auf Ihrer Europatournee haben Sie ein Konzert in Perugia vorzeitig abgebrochen. Warum?

Jarrett:
In Perugia wäre es egal gewesen, wer etwas sagt oder wie ernsthaft er es gesagt hätte: Es gab ein Gewitter aus Handy-Blitzen.

ZEIT:
Manche Stücke entwickeln ein Eigenleben im Konzert – wie Leonard Bernsteins Somewhere oder Thelonious Monks Straight No Chaser –, andere bleiben wunderschöne Melodien, ohne dass Sie darüber improvisieren. Wovon hängt das ab?

Jarrett:
Vom Augenblick. Vom Flügel, vom Klang, von den vibrations, von der Empfänglichkeit des Publikums. Ich kann nie sagen, ob ich mich auf der Bühne vor Publikum ausschließlich auf die Melodie konzentrieren kann. Manche Länder sind eher romantisch geprägt, in Italien etwa kommen Balladen am besten an, in Deutschland liebt man Straight No Chaser. Und in New York ist alles gemischt.

ZEIT:
Bei Straight No Chaser haben Sie kaum die Tasten berührt. Die rasend schnelle Improvisation wirkte abstrakt, fast wie eine Pantomime oder eine Hommage an den Free-Jazz-Pianisten Cecil Taylor.

Jarrett:
Sie denken zu viel. Wir hatten das Gefühl, dass an diesem Abend auf der musikalischen Palette noch etwas fehlte, dass etwas ergänzt werden musste, um eine Einheit zu schaffen. Das ist eine Sache von Professionalität. Und an einem Punkt hatte ich den – unausgesprochenen – Wunsch, etwas zu spielen, das die deutsche Tradition des Musikhörens aufgreift. Wir hatten den ganzen Abend versucht, gegen den Raum anzuspielen, aber Straight No Chaser war ein Titel, der in diesem Raum schon zu Hause war. Der Anfang des Konzerts war bewusst bluesy, sogar die Ballade hatte blue notes.
Wir konnten den Raum aus seiner örtlichen Bindung lösen. Darin liegt die große Kunst der Improvisation. Man kann aus dem Augenblick heraus einen Konzertsaal, der beispielsweise in Deutschland liegt, in ein anderes Land transportieren. Wenn aber schon vorher bekannt ist, welche Musik auf dem Programm steht, dann befinden Sie sich am Ende des Konzerts genau dort, wo Sie angefangen haben. In der Improvisation geht es aber um Kräfte. Kräfte, die in komponierter Musik nicht vorhanden sind. Bei der weiß man, was einen erwartet. Man geht in ein Konzert, weil man Stockhausen oder Schönberg hören will.

ZEIT:
Entscheiden Sie über die Auswahl der Stücke, wenn Sie den Raum sehen, oder je nach Reaktion des Publikums?

Jarrett:
In Essen wirkte der Raum sehr streng. Ohne Publikum fühlt man das besser. Aber während des Konzerts hat sich das verändert. Das Publikum hat seinen Teil beigetragen. In der Schweiz oder in Deutschland warten die Leute auf die freien Improvisationen. In Essen habe ich das erste Mal von Anfang an dagegen angespielt, mit einer alten Miles-Davis-Nummer, langsam und groovy, dann mit einer Paul-Desmond-Ballade und so weiter. Aber das lässt sich nicht übertragen, genauso wie man Wein nicht verschicken sollte. Musiker, die nicht improvisieren, machen sich über so etwas keine Gedanken. Wenn man improvisiert, hat man nur sein Werkzeug, aber kein Material.

ZEIT:
Haben Sie jemals daran gedacht, wieder in Clubs oder kleineren Räumen zu spielen?

Jarrett:
Nein. Zum einen würden zu viele Leute kommen, und wir müssten dann öfter spielen, drei oder vier Sets. Und vergessen Sie nicht: Wir werden älter. Mit meinem Rücken könnte ich heute Abend unmöglich spielen.

ZEIT:
Sie haben einmal gesagt: »Die einzige Beschränkung meiner Musik liegt in den Grenzen meines Körpers.« Sie wirken gesünder als je zuvor.

Jarrett:
Die Sache mit dem Rücken ist neu. Wahrscheinlich ist die Tour zu anstrengend – zu viele seltsame Reisen. Aber der Satz gilt unvermindert.

ZEIT:
Mit dem Trio spielen Sie vorwiegend Standards. Warum?

Jarrett:
Standards leben. Ich kenne keine Musik, die so lebendig geblieben ist. Wenn ich Balladen spiele, habe ich oft den Text im Kopf, und ich spiele die Stimmung des Textes. Besonders wenn ich ganz nahe an der Melodie bleibe. Ich will keinen Geschichtsunterricht geben, auch auf die Verbindungen innerhalb des Jazz hinweisen, indem ich Bebop-Phrasen verwende oder im Stil der Alten spiele. Ich muss nicht beweisen, dass ich unverwechselbar bin. Jeder ist einzigartig.

ZEIT:
Als Sie vor 25 Jahren begannen, mit dem Bassisten Gary Peacock und dem Schlagzeuger Jack DeJohnette Standards zu spielen, war das fast konservativ revolutionär.

Jarrett:
Wir gingen von der Überlegung aus, dass es im Jazz nie um das Material geht, sondern um die Art, wie du spielst. Das Beste war: Wir mussten nicht groß üben, weil wir uns verstehen, es ist eine ständige Interaktion. Ich werde oft gefragt, warum wir nicht im Quartett spielen. Aber das würde bedeuten, dass immer einer untätig herumsteht und wartet. Ich will das nicht mehr. Manchmal überlege ich mir, ob ich einen Bläser dazuhole, aber ich habe noch keinen gehört, der ernsthaft infrage käme. Ich habe keine Zeit, jemand zu erklären, wie wir spielen. Es hat 25 Jahre gedauert, dort hinzukommen, wo wir heute stehen, und ich habe nicht noch einmal 25 Jahre Zeit.

ZEIT:
Haben Sie schon mal überlegt, wieder mit Jan Garbarek zusammenzuspielen?

Jarrett:
Nachgedacht habe ich darüber, aber ich glaube nicht, dass er Interesse hätte. Außerdem hat sich sein Klang verändert. Jan hatte immer Angst, bei freien Improvisationen seine Identität zu verlieren. Er hat sich mehr an Norwegen orientiert, an einem Klang, der ihm näher stand. An einem Abend in New York spielte er ein unglaubliches Solo, und als wir uns später die Aufnahme in der Küche des Village Vanguard anhörten, war Jan völlig deprimiert. Als ich ihn fragte, was er schlecht daran finde, wusste er es nicht. Ich denke, es war ein Identitätsproblem.

ZEIT:
In unserem Gespräch 1999, kurz vor Ihrer Genesung vom Burn-out-Syndrom, hatten Sie erklärt, dass Sie niemals mehr Solokonzerte geben wollten. Jetzt spielen Sie wieder und haben mit dem Carnegie Hall Concert eines Ihrer großartigsten Konzerte veröffentlicht. Was hat Sie umgestimmt?

Jarrett:
Das ist kompliziert. Als ich mir während der Krankheit einige meiner Solokonzerte anhörte, dachte ich: O nein! Manches mochte ich, anderes weniger, aber vor allem hatte ich das Gefühl, dass ich nicht mehr derselbe Mensch bin. Und dann fiel mir auf, dass ich früher fast nie mit der linken Hand gespielt hatte.

ZEIT:
Sie haben eine neue Form für Ihre Solokonzerte gefunden. Sie verbinden die einzelnen Teile nicht mehr, sondern lassen eine Pause zwischen den »musikalischen Räumen«. Gibt es für Sie einen inneren Zusammenhang?

Jarrett:
Das müssen Sie selbst herausfinden, aber ich denke, es gibt eine Verbindung. Wenn Sie in einem erstklassigen Restaurant ein Menü essen, werden Sie feststellen, dass die einzelnen Gänge aufeinander abgestimmt sind. Ich will Ihnen ein Beispiel geben. Beim Carnegie Hall Concert hatte ich die zweite Hälfte beendet, ging von der Bühne und überlegte, was ich als Zugabe spielen sollte. Und plötzlich hatte ich das Gefühl, dass ich das Konzert nicht zu Ende gespielt hatte. Also wurde die erste Zugabe zum letzten Stück des Konzerts und nicht zur ersten Zugabe. Später wusste ich nicht, wie ich diesen Teil nennen sollte. Ich wollte ihm nicht einen Titel wie den anderen Improvisationen geben, etwa 2A, dazu war das Gefühl zu greifbar. Ich nannte es The Good America. Das ist nicht politisch gemeint, hat nichts mit Patriotismus zu tun, nichts mit Stolz, enthält auch keine Anklänge an Nationalhymnen. Für mich hat es eher diese Fülle, die es wie einen Standard klingen lässt. Oder einen Hymnus, ein Kirchenlied. In Amerika fragt man mich oft nach dem Hintergrund des Titels.

ZEIT:
Ich frage Sie jetzt nicht nach Ihrer Meinung zu George W. Bush.

Jarrett:
Danke. Sehr freundlich. Man kann es auch so sehen: Das Carnegie-Hall-Conzert zielte darauf hin, das Stück zu improvisieren. Ein Solokonzert ist wie selbst auferlegte Isolation. Als säße man im Gefängnis in Einzelhaft und suchte einen Weg heraus – dieses letzte Stück war der Weg, aus dem Konzert herauszufinden und nach Hause zu kommen.

ZEIT:
Sie haben einmal erklärt, dass es etwas Größeres geben müsse als die eigenen Ideen, um ein Solokonzert durchzustehen. Meinten Sie das metaphysisch?

Jarrett:
Damals war es vermutlich metaphysisch gemeint. Heute fällt mir dazu eher meine linke Hand ein. (lacht herzhaft)
Meine Linke weiß besser als ich, wie man spielt. Seit Radiance hat sich etwas verändert. Wir nehmen die Improvisation als Fluss wahr, aber eigentlich besteht sie aus rasend schnellen Informationen, Impulsen, fast digital. Mir ist aufgefallen, dass ich beim Spielen in letzter Zeit öfter unwillkürlich blinzle, statt meine Hände zu beobachten. Dieses Blinzeln ist ein Weg, die Realität in Scheiben zu schneiden. Das macht den Fluss weniger sichtbar, denn ich sehe nichts genau. Wenn ich meine linke Hand beobachte, stelle ich fest, dass sie Dinge macht, die ich nie komponieren würde oder nie bewusst spielen könnte.

ZEIT:
Also hat Sie Ihre linke Hand gerettet?

Jarrett:
Wiedergeboren. Wiedergeboren durch meine Linke.

ZEIT:
Sie haben einmal gesagt, dass Sie bewusst kleine Störungen herstellen, um beim Improvisieren einen gewissen Automatismus zu verhindern. Zählt Ihre linke Hand dazu?

Jarrett:
Ich lasse meine Linke machen, was sie will, und es ist mir völlig egal, wie das klingt – auf Radiance und im Carnegie Hall Concert ist das ein paar Mal passiert – ich sage mir einfach, dass ich alle Sounds liebe. Ich will nicht ständig in gut und schlecht einteilen. Auch was abstrakt klingt, gehört zum verbindenden Gewebe solcher »Störungen«. Ich würde das nie absichtlich machen, ich staune selbst darüber. Der große Luxus am Improvisieren ist – und jeder Improvisator weiß das –, dass du das, was du spielst, nicht gut finden musst. Wenn ein junger Pianist zu mir kommt, mir etwas vorspielt und nicht so recht damit zufrieden ist, dann erkläre ich ihm, dass er das Gespielte nicht genügend hasst. Man muss davon besessen sein, etwas zu spielen, was man bisher nicht gehört hat, was man nicht erwartet hat. Das kann dann sehr schlecht sein – oder viel besser als alles, was man sich je hätte vorstellen können. Improvisieren ist ein Luxus und zugleich ein Fluch. Ein Fluch, weil es sofort verschwindet und nichts notiert ist.

ZEIT:
Dem Fluch entgehen die meisten, indem sie alles aufnehmen. Wenn Sie vorher wissen, dass ein Konzert nicht aufgezeichnet wird, fühlen Sie sich dann befreit?

Jarrett:
Ja. Das Ganze ist wertvoller, weil man etwas mit den Menschen teilt, die im Raum sind. Außerdem ist man nicht so verkrampft. Ich spiele dann, wozu ich Lust habe, und plane nichts.

ZEIT:
Wenn Sie unter Ihren eigenen Platten Ihre Lieblingsalben nennen, dann sind darunter hauptsächlich Alben, auf denen Sie nicht Klavier spielen. Auf Hymns/Sphere spielen Sie Orgel, auf Book Of Ways Clavichord, auf Spirits verschiedenste Instrumente. Trauen Sie dem Klavier nicht?

Jarrett:
Seit ich als Pianist besser geworden bin, verspüre ich nicht mehr das Bedürfnis, mich durch andere Instrumente auszudrücken. Melodien spiele ich vermutlich besser als jeder andere im Jazz – meine Mozart-Aufnahmen, vor allem die Adagios, waren da sicher sehr hilfreich. Mir genügt es jetzt vollkommen, wenn ich gut Klavier spiele.

ZEIT:
Als Sie krank waren, wurde Musik für Sie immer unwichtiger. Fanden Sie das beängstigend?

Jarrett:
Ja, aber wenn man ernsthaft krank ist, fällt es schwer, sich über so etwas aufzuregen. Ich hatte nicht mal die Energie, zu erschrecken. Wenn ich ein Buch lesen wollte, war es mir schon zu mühsam, die Seiten umzublättern.

ZEIT:
Dann ist Musik kein Trost im Schmerz?

Jarrett:
Wenn es einem sehr schlecht geht, kann Musik nichts ersetzen. Sie kann sogar das Gegenteil bewirken. Wie Rilke sagte: Musik erhebe ihn und lasse ihn anschließend tiefer fallen als zuvor.

ZEIT:
Ich dachte immer, Kunst sei größer als das Leben.

Jarrett:
Stimmt vermutlich nicht! (lacht)
Ich dachte das auch mal. Musik mag größer sein als das Leben. Aber wenn das Stück zu Ende ist, kommt das Leben zurück.

Das Gespräch führte Konrad Heidkamp

 

 




Die Zeit, 25.11.1999, Nr 48
Interview von Konrad Heidkamp mit Keith Jarrett

 

Das Klavier singt doch

Der Jazz-Pianist Keith Jarrett blickt zurück. In einem seiner seltenen Interviews spricht er mit ZEIT-Redakteur Konrad Heidkamp über seine rätselhafte Krankheit, Mozart und die Zukunft der Ekstase

DIE ZEIT:
Seit Ende 1996 haben Sie Ihre Konzertauftritte drastisch eingeschränkt und keine Jazzaufnahmen eingespielt. Bedeutet Ihr Soloalbum The Melody At Night, With You nun einen Neubeginn, oder ist es ein Rückblick auf die letzten drei Jahre?

KEITH JARRETT:
Die Musik dieser CD entstand in meinem kleinen Privatstudio. Ich war allein, ohne Toningenieur. Die Stücke waren als Weihnachtsgeschenk für meine Frau geplant. An eine Veröffentlichung dachte ich überhaupt nicht. Der Flügel sollte überarbeitet, die Hämmer mussten ausgewechselt werden. Als ich dann das Instrument testete, stellte ich ab und zu die Mikrofone an. Virtuos konnte ich nicht spielen, dazu war ich zu krank, ich schuf aber diese entspannte Nocturne -Stimmung, sodass ich mich schließlich entschloss, die Mikrofone immer einzuschalten. Ich fühlte mich ziemlich schwach, deshalb dauerten die "Aufnahmen" ein paar Wochen, bis ich etwa 40 Stücke zusammenhatte. Daraus wählte ich dann die besten aus.

JARRETT:
Ich wollte mich ausschließlich auf die Melodien konzentrieren. Ich bin sicher, viele Jazzkritiker werden diese Aufnahmen langweilig finden: Harmonisch passiert da ja überhaupt nichts. Aber wenn du deine Aufmerksamkeit auf die Melodie richtest, erübrigen sich die harmonischen Geläufigkeiten ohnehin von selbst. Wenn ich also merkte, dass ich komplizierter werde, habe ich sofort aufgehört. Mir ging es darum, mit dem Flügel die Stimme zu imitieren. Das ist unglaublich schwer, denn das Klavier singt nicht. Es macht nur: Boing! Man kann sich zwar bemühen, es zum Singen zu bringen, aber es bleibt immer begrenzter als die Stimme.

ZEIT:
Sie leiden an einer Krankheit, die sich Chronisches Erschöpfungssyndrom nennt, einer Krankheit, die dem Betroffenen selbst alltägliche Verrichtungen unendlich schwer macht, die alle Energie verbraucht. Ist diese Krankheit organisch oder psychisch bedingt?

JARRETT:
Es gibt viele Theorien dazu. Aber keine ist bewiesen. Und keine davon verspricht, die Krankheit zu heilen. Außer der Methode, die ich jetzt verfolge. Aber ich zweifle auch daran, bis ich den Erfolg sehe. Die Krankheit erstreckt sich auf alle Bereiche: mental, physisch, das Nervensystem, die Muskeln, Augen, Haut ... Was mir am schwersten fällt, ist Sprechen. Schwerer als Klavierspielen, schwerer als Gehen. Inzwischen ist alles anders. Als ich mich das erste Mal nach Ausbruch der Krankheit ans Klavier setzte, konnte ich keine Verbindung zwischen Kopf und Händen herstellen. Ich war unfähig, Entscheidungen zu treffen.

ZEIT:
Es ist bekannt, dass Sie vor Ihren Solokonzerten versuchen, absolute Leere in sich zu erzeugen, um aus dem Augenblick heraus zu spielen. Kann Ihre Krankheit auch durch diese extremen Belastungen ausgelöst worden sein?

JARRETT:
Keine Ahnung, wie stark das durchschlug. Bei vielen Betroffenen, mit denen ich gesprochen habe, gab es ähnliche Ausgangslagen: Sie waren hyperaktiv, hatten fünf Jobs, sechs Kinder, jede Menge Stress, und plötzlich bekamen sie eine Infektion. Niemand, der ständig vor dem Fernsehapparat hängt, hat diese Krankheit jemals bekommen. Ich war dafür berühmt, mich zum Äußersten zu zwingen. Ein Teil meines Publikums kam vor allem, weil es diesen hohen Anspruch erwartete. Sogar wenn ich versagte, hatte ich alles gegeben. So gesehen, bezahle ich jetzt dafür. Meine Solokonzerte waren einfach verrückt. Es ist, als ob man aus sich heraustritt und sämtliche Organe sich verabschieden. Das würde ich wahrscheinlich nicht noch einmal machen. Ich glaube es nicht.

JARRETT:
Vielleicht. Ich hatte meinen Studenten immer gesagt: Spielt, als wäre es das letzte Mal. Als ich dann vor drei Jahren krank wurde, hatte ich wirklich das Gefühl, das letzte Mal zu spielen. Es war, als ob jemand einen Knopf drückt und dein Leben auf null zurückspringt. Und alle Anzeichen deuteten darauf hin, dass es dort bleiben wird. Während dieser langen Pause hörte ich mir meine alten Aufnahmen an, und vieles davon gefiel mir überhaupt nicht mehr. Warum hab ich das gemacht, warum zum Teufel hab ich diese Note gespielt? Warum ist diese Einleitung so lang? Ist das alles, was ich der Welt hinterlasse? Aber, um zum Positiven zu kommen: Wenn ich jetzt spiele, will ich keine Zeit vergeuden oder meine Kraft an irgendeine Note verschwenden, denn meine Energien sind begrenzt. Man kann mit sehr wenig Noten wunderbare Musik machen. Bevor ich krank wurde, spielte ich, als wäre ich verzweifelt. Aber wenn es dein letzter Tanz ist, dann willst du einfach, dass es dein schönster wird. Das ist keine Verzweiflung, sondern irgendwie: Wundervoll, ich habe noch eine Chance. Eine mehr, als ich dachte.

ZEIT:
Sie wechselten in den letzten fünfzehn Jahren zwischen Solokonzerten, klassischer Musik und den Standardinterpretationen. Für wen sind Grenzwechsel schwieriger, für den Jazzmusiker oder den klassisch ausgebildeten Interpreten?

JARRETT:
Ich denke, für einen Jazzmusiker ist es einfacher, klassische Musik - schlecht - zu interpretieren, als für einen klassischen Musiker - überhaupt irgendeine Form von - Jazz zu spielen. Aber beides ist gefährlich. Friedrich Gulda ist ein gutes Beispiel, und es gibt andere waghalsige Fälle von cross over. Immerhin ist sich Friedrich dessen bewusst -, und er liebt den Jazz. Die Ergebnisse sind allerdings eine andere Sache. Aber natürlich denken die Leute dasselbe über meine Interpretationen klassischer Musik.

ZEIT:
Können Sie sich vorstellen, ohne Musik zu leben?

JARRETT:
Während der ersten eineinhalb Jahre meiner Krankheit konnte ich es mir gut vorstellen. Ich hatte nicht einmal Lust, Musik zu hören, eine Zeit lang hasste ich sie förmlich. Obwohl "hassen"nicht der richtige Audruck ist. Ich fragte mich: Was ist das? Mein ganzes Leben hatte ich Musik gespielt. Und jetzt wusste ich nicht einmal, was das ist - Musik? Es ist nicht so schwer, auf Musik zu verzichten. Wenn sie weg ist, ist sie eben weg. Bye bye! John Cage spielte Klavier, bekam dann Athritis, hörte auf, wurde Schriftsteller, schließlich komponierte er seine Philosophie.

ZEIT:
Sie könnten sich darauf konzentrieren zu komponieren.

JARRETT:
Mit dieser Krankheit kann man nicht kreativ sein. Man kann nicht einfach seinen Willen dazu benützen und etwas erzwingen. In Amerika sagt man: Get over it. Try harder. Das funktioniert oft. In diesem Fall aber frisst die Krankheit genau die Energie, die du dir wünschst. Es sind parasitäre Bakterien.

ZEIT:
Auf Ihrer neuen CD spielen Sie wieder Standards. Während sich im Jazz eine erhebliche Erweiterung des Repertoires feststellen lässt, ob durch Klezmer oder Soundtracks, klassische Musik oder Weltmusik, beschränken Sie sich seit 15 Jahren auf Standards aus den dreißiger und vierziger Jahren. Warum?

JARRETT:
Warum nicht? Einen klassischen indischen Musiker würden Sie doch auch nicht fragen, warum er immer Ragas spielt. Oder nehmen Sie Mozart! "Warum klingen Ihre Lieder immer so ähnlich, Wolfgang? Immer diese Skalen! Man könnte doch mehr auf dem Flügel ausprobieren als immer nur diese Mittellagen!" Standards sind die beste Musik Amerikas, und sie sind in einer Sprache komponiert, die wir alle kennen und durch die wir uns ausdrücken können. Und das machen Jazzmusiker ihr Leben lang.

JARRETT:
Ich kann mich nicht entsinnen, dass mich irgendein Popsong berührt hat seit ... ich führe kein Tagebuch darüber. Wenn ich irgendetwas höre, das ich mag, und sei es gestern geschrieben, würde ich es sofort verwenden. Aber wenn Sie in einem Konzert einen Standard aus der vierziger Jahren nehmen und danach ein Ornette-Coleman-Stück oder eines von Cyndi Lauper, dann verlieren Sie Ihre Sprache. Im Bebop spielt man als Pianist ganz bestimmte Figuren mit der linken Hand, wenn man dann zu einem Standard wechselt - das ist schwierig. Weil ich plötzlich daran denken muss, meine linke Hand umzustellen. Und eigentlich wollte ich mich doch mehr und mehr in die Sprache versenken, in der ich das Konzert begonnen hatte.

ZEIT:
Heißt das, Sie passen Ihre Sprache immer dem jeweiligen Material an und verfügen über keine eigene Sprache?

JARRETT:
Hatte Miles Davis eine eigene Sprache? Er hatte seinen eigenen Sound. Die Texturen der Songs überließ er seiner Band. Sie befreite ihn davon. Also konnte er darüber improvisieren. Außerdem wollte Miles hip sein. Mir ist es egal, ob mich jemand für hip hält.

ZEIT:
War es Ihnen nie wichtig, hip zu sein, auch nicht in Ihrer Jugend? Ich denke dabei an die Zeit, als Sie bei Charles Lloyd spielten, an die Platten mit den psychedelischen Covern.

JARRETT:
Nein, das war nicht hip, das war dämlich. Und schlechter Geschmack außerdem. Sicher, als ich jung war, fand ich alles aufregend, auch Kleidung. Charles wollte uns immer in einem bestimmten Outfit sehen. Einmal schickte er uns sogar ins Hotelzimmer zurück, weil wir die falschen Klamotten anhatten. Ich finde: Man kann nach innen hip sein oder nach außen. Standards sind große amerikanische Popmusik. Besser als Pop. Wir leben diese Musik, die andere lässt mich kalt.

ZEIT:
Sie hatten sich vor ein paar Jahren öffentlich mit Wynton Marsalis, seinem Musik-Kanon und den Traditionalisten seiner "Jazz-Schule" angelegt. Hat sich inzwischen etwas an Ihrer Position verändert?

JARRETT:
Wynton Marsalis spielt noch immer den großen Lehrer. Diese Schulsituation wird immer dominierender. Ich habe nichts gegen Traditionalismus als Kategorie. Was aber Marsalis in die Welt gesetzt hat, ist das Gegenteil von Jazz. Er belehrt die Welt darüber, was Jazz zu sein hat. Und der normale Leser und Hörer weiß es nicht besser. Außerdem kann man nicht gleichzeitig Lehrer und Musiker sein. Wenn du Lehrer bist, musst du das vormachen und nachahmen, was andere vor dir gespielt haben. Und wenn du das tust, verlierst du die Beziehung zu deiner eigenen Musik.

ZEIT:
Gab es für Sie Vorbilder, denen Sie nacheifern wollten?

JARRETT:
Als ich 14 oder 15 war, kam zum ersten Mal ein Weltklassepianist nach Allentown, meiner Geburtsstadt - Dave Brubeck. Ich erinnere mich noch, wie ich dachte: Das kann es nicht gewesen sein. Als mir später jemand in Berkeley sagte, dass ich wie Oscar Peterson klinge - ich mochte seine Musik, wusste aber auch, dass sie nichts mit mir zu tun hatte -, war mir klar, dass ich niemanden imitieren wollte. Jemand anderes sagte mir in Berkeley, ich hätte wohl viel Bill Evans gehört. Und ich fragte zurück: Bill, wer?

ZEIT:
Und wann waren Sie sicher, Ihren eigenen Klang gefunden zu haben?

JARRETT:
Gegen Ende der sechziger Jahre trat ich in Brüssel auf, mit dem französischen Schlagzeuger Aldo Romano. Zwischen dem ersten und zweiten Set hatte ich eine Art Erleuchtung. Ich weiß noch, wie ich zu mir sagte: Es ist vorbei, du musst nicht mehr nach deinem Klang suchen, geh raus und spiele ... und das war's. Beim letzten Schritt wirfst du alles ab. Was übrig bleibt, das bist du - in jeder Beziehung.

ZEIT:
Das "Jahrhundert des Jazz" geht zu Ende, und die Nachrufe häufen sich. Sie als den weltweit populärsten lebenden Jazzmusiker gefragt: Sehen Sie einen Musiker, der Sie hoffen lässt?

JARRETT:
Nein, im Moment nicht. Ich neige dazu, bei diesem Thema philosophisch zu werden. Es ist unmöglich, die Musik frisch und gesund zu erhalten, wenn die Welt auf so vielen Ebenen zerstört wird. Junge Musiker hören zu viel Musik, sie halten den Ersatz für das Original, können nicht zwischen gut und schlecht unterscheiden. Wenn es darum geht, berühmt zu werden, braucht man nur einen Manager, der einem sagt, was man tun und lassen muss. Das ist alles. Als ich nach New York kam, hatte ich keinen Job. Aber ich wollte auch keinen, solange er nicht etwas mit wirklicher Musik zu tun hatte. Ich hätte auf Hochzeiten spielen können, ich kannte die Songs, es war kein Problem ... Als ich schließlich meine ersten Platten aufgenommen hatte, verschaffte mir mein erster Manager George Avakian ein Engagement in einem Club in Cincinnati. Er beschrieb mir den Club und ich sagte: "Nein." Ich kenne viele berühmte Künstler, die nicht nein sagen können. Wenn dir jemand sagt, du müsstest zu einer bestimmten Fotosession bestimmte Kleider anziehen, kann man nein sagen. Ganz einfach. Man muss sich nur daran erinnern, wozu man da ist. Ich bin nicht da, um bestimmte Kleidungsstücke zu tragen, sondern um Musik zu spielen.

ZEIT:
Waren Sie nie in der Situation, sich unter Wert verkaufen zu müssen?

JARRETT:
Natürlich trifft man als junger Musiker Arschgeigen, die nichts von Musik verstehen und keine Ahnung haben, was man macht. Als ich bei Columbia war, ging ich zum künstlerischen Leiter, er begrüßte mich: "Kommen Sie rein, Mr. Jarrett!" Wir setzten uns. Er sagt: "Na, was machen Sie denn?" - "Ich spiele Klavier", sagte ich. Darauf er: "Oh, wie schön!" Man kennt diese Leute nicht und weiß doch schon vorher, sie verkörpern genau den Typ, zu dem man nein sagen muss. Die idealen Menschen zum Neinsagen.

ZEIT:
Der Dirigent Sergiu Celibidache hat zu
Schallplatten und CDs grundsätzlich nein gesagt. Welche Bedeutung haben Aufnahmen für Sie?

JARRETT:
Verglichen mit dem, was man im Konzert spielt, sind sie wie Postkarten. Musik, die live im Raum entsteht, lässt sich durch nichts ersetzen. Aber gegenüber der klassischen Musik gibt es im Jazz doch einen Unterschied. Würden wir uns nicht eine Aufnahme wünschen, auf der Bach improvisiert? Der Moment des Improvisierens wird sich nie wiederholen. Das heißt, den Bereich der improvisierten Musik kann man kaum mit der Problematik notierter Musik vergleichen. Mozarts Klavierkonzerte sind dafür ein gutes Beispiel. Beim Spielen geben sie dem Pianisten alles. Aber wenn man nachträglich zuhört, lässt sich nur schwer sagen, was der Pianist für sich gewinnt, es sei denn, er übertreibt bestimmte Phrasen oder wählt bestimmte stilistische Eigenheiten, die den Eindruck vermitteln, man ahne, worum es geht.

ZEIT:
Ihre Aufnahmen mit klassischer Musik sind nicht unumstritten. Viele werfen Ihnen vor, sich zu sehr zurückzunehmen.

JARRETT:
Es ist nicht so, dass ich Mozart oder Bach nicht gerne getroffen hätte, aber als Improvisator geht es mir mehr darum, mich der Musik zu geben, als dass sich die Musik mir ergibt. Das bedeutet keine blinde Verehrung, aber man sollte kein größeres Instrumentarium mitbringen als nötig. Es wäre schön, wenn Mozart reinkäme und sagen würde: "Das ist gut, Sie haben das nicht übertrieben. Das ist in Ordnung." Ich will nicht, dass er sagt: "Genauso hatte ich mir das vorgestellt!" Keiner ist dazu fähig - nur Mozart. Wenn er heute lebte, würde er ohnehin Jazz spielen.

ZEIT:
Musiker und Kritiker haben immer wieder verkündet, dass das Ende einer gewissen Form der Kunst bevorstehe. Meistens haben sie sich getäuscht. Gibt es jetzt mehr Grund zum Pessimismus?

JARRETT:
Ich denke, die Qualitätmaßstäbe sind ständig gesunken, sie orientieren sich mehr am Markt als an dem Wert des Produkts. Das Bedürfnis lässt sich über die Werbung steuern, deshalb kann man die Qualität senken. Da wir in einer Welt leben, die so erfolgreich für sich selbst Reklame macht, brauchen wir auch keine Qualitätsprodukte mehr: Die Welt wirbt nur noch für sich selbst.

ZEIT:
Was Sie sagen, klingt ziemlich pessimistisch.

JARRETT:
Durch meine Krankheit bekam ich eine Vorstellung davon, wie bedeutungslos Musik eigentlich ist. Ich kann also mit Recht sagen, es ist nicht wichtig, ob sie an ihrem Ende angelangt ist. Musik ist da. Schön, wenn es damit weitergeht. Wenn nicht, dann nicht. Man kann sie nicht herbeizwingen. Das wäre unnatürlich. In gewisser Weise gibt es keine Zukunft, gab es nie eine Zukunft. Ich kann mir vorstellen, dass jemand nach Charlie Parker sagte: Wer kann jetzt noch wagen, Saxophon zu spielen? Und auf eine bestimmte Art hatte der Mann Recht. Vieles hat sich verändert: Heute sind die Musiker clean. Sie nehmen keine Drogen mehr. Haben eine sehr vernünftige Einstellung zu ihrem Leben und ihrer Musik gefunden, haben sich - zu sehr - unter Kontrolle. Doch in der Musik geht es vor allem um Ekstase. Vielleicht wäre es sinnvoller gewesen, Sie hätten mich nach der Zukunft der Ekstase gefragt. Unsere Welt, die einmal in Weltanschauungen zerfiel, wird innerhalb der Industriestaaten immer gleichförmiger, warum sollte es mit der Musik anders sein?

ZEIT:
Wie sehen Sie denn Ihre eigene Musik in dieser Welt?

JARRETT:
Ich habe mir schon oft vorgestellt, nie wieder zu spielen. Es war okay. Jetzt wäre die Zeit für John Cage gekommen. Die Bühne betreten, den Flügel von der Bühne schieben, sich verneigen und sagen: Vielen Dank.

ZEIT:
Gibt es keinen Hoffnungsschimmer?

JARRETT:
Es gibt wunderbare afrikanische Musik, großartige indische Musik, kubanische Musik, die aber jetzt zum Produkt geworden ist, das plötzlich jeder schon immer kannte. Aber im Jazz? Der Tenorsaxophonist Branford Marsalis, der bedeutend talentierter ist als sein Bruder Wynton, sollte mit seiner Band für die Tonight Show verpflichtet werden. Hier in den USA wurde das groß gehandelt: Endlich hat es der Jazz im Fernsehen geschafft. Ich schrieb dazu einen Artikel, in dem ich das Ganze in Frage stellte. Wie kann so etwas gut für den Jazz sein? Zwischen Werbeblöcken eine Minute spielen und dann - stopp! Man sollte die jungen Musiker vor den Medien retten.

ZEIT:
Von vielen Kritikern - auch denen, die Ihre Musik lieben - wird oft Ihr unnahbares und gottähnliches Selbstbewusstsein kritisiert. Können Sie das nachvollziehen?

JARRETT:
Ich muss einräumen, dass ich den einen oder anderen spirituellen Pfad beschritten habe ... vielleicht liegt es daran. Zum anderen: Ich sage, wenn etwas gut ist - auch wenn es von mir stammt. Außerdem schrieb ich in den Plattentexten etwas über Gott ... und das macht die Menschen immer nervös. In den USA ist es einfacher, da liest keiner die liner notes. Kein Mensch fragt mich hier, was dieses oder jenes Gedicht bedeutet. Oder warum ich Rilke auswählte. Oder Bly. Man weiß hier nicht einmal, dass er Amerikaner ist.

ZEIT:
Meint das You im Titel Ihrer neuen CD mehr Ihre Frau oder den Flügel?

JARRETT:
Es meint beide. Meine erste Platte für ECM hieß ja auch Facing You. Es ist ein koffeinfreies Album, man sollte es nachts hören, es ist stressfrei. Im Konzert lässt sich diese Musik nicht wiederholen. Ich spielte diese Songs sehr sanft. Im Konzertsaal muss man die leisen Stellen viel lauter spielen, damit die Dynamik stimmt, und damit verändert sich sofort der Klang. Ich habe die Klaviertasten im Studio mit einem Minimum an Kraft angeschlagen, sodass selbst die lauten Töne nicht perkussiv klangen. Normalerweise haben die Tasten einen Druckpunkt, man muss ihn wie eine Oberflächenspannung überwinden, um die Taste nach unten zu drücken. Bei diesem Flügel fehlt der Widerstand, und so kann ich die Melodien ganz sanft und ausdrucksvoll spielen.

ZEIT:
Wird es eine Fortsetzung von The Melody At Night, With You geben?

JARRETT:
Ich denke nicht. Vor etwa einem Monat ging ich wieder ins Studio und versuchte, diese ganz besondere Stimmung in meinem Kopf wiederzufinden, damit ich wieder so spielen konnte. Ich schaltete die Mikrofone ein - nichts. Ich fand dieses Gefühl nicht mehr. Diese Musik betraf eine sehr spezielle, kurze Zeit meines Lebens. Vielleicht muss das Wetter wieder schlechter werden. Kälter vielleicht, damit man gerne nach innen geht.

ZEIT:
Als Chet Baker 1988 in Amsterdam starb, war er im Hotel mit der Adresse Oklahoma City eingetragen. Er war zwar dort geboren, lebte aber nie dort. Gibt es in Ihrem Leben eine ähnliche home address?

JARRETT:
Hier im Nordosten, in New Jersey fühle ich mich zu Hause. Nicht im nahen Allentown, meiner Geburtsstadt, nicht im Nachbarort. Es ist die Landschaft. Aber es steckt noch mehr dahinter. Menschen, die dem Pfad folgen, auf dem ich mich befinde, sind dazu angehalten, sich ihrer selbst zu erinnern, der Essenz. Hinter den Verstand, den Gefühlen und Empfindungen jenen Platz zu finden und dort zu verweilen, während man seinen ganz normalen Alltag lebt. Es ist eine Art Meditation, die nur wenige mehr als zwei Sekunden schaffen. Aber selbst wenn es nur eine Sekunde gelingt - dort ist die wahre Heimat.

ZEIT:
Das klingt wieder sehr spirituell.

JARRETT:
Wahrscheinlich untermauert dies wieder mein gottähnliches Image. Ich glaube, ich schüchtere die Leute ein. Zuerst denken sie, es sei sehr schwierig, mit mir zu sprechen. Dann merken sie, dass das nicht stimmt. Dann glauben sie, ich hätte irgendwelche Geheimnisse, die ich nicht preisgeben möchte. Dabei habe ich nichts preiszugeben - außer meiner Musik.

 

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MusikLeben 1 - Per Anders

Dorothée Arneth - Interview
STUZ  -  Studentenzeitung Mainz Wiesbaden

 

»Der wird noch einige Haken schlagen«

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Im tiefsten Winter in Berlin treffen Jörg Holdinghausen, Bassist von der Band Tele, und Pola Roy, Schlagzeuger von Wir sind Helden, auf Per Anders, einen kauzigen Waldschrat, der seine Abgeschiedenheit in Musik verwandelt und gerade sein erstes Album veröffentlicht. Jörg und Pola standen uns während der Tour von Wir sind Helden zum Interview zur Verfügung, um herauszufinden, wer Per Anders ist, wie die Zusammenarbeit entstand und wie man die Musik aufnehmen sollte. Das Interview führte Dorothée Arneth. Foto: Frank Eidel

STUZ: Wer oder was ist denn Per Anders? Ist das ein Alter-Ego von euch? Wie ist er zu charakterisieren?

Pola: Per Anders ist in erster Linie ein alter Waldschrat, der in den Wäldern Berlins haust. Da Jörg am Waldrand lebt und ich ihn dort immer besucht habe, haben wir ihn irgendwann mal getroffen und gemerkt, dass er ganz tolle Musik macht. Und dann hat er uns immer besucht und so ist das entstanden.

Jörg: Per Anders ist auch einer, der ganz untypisch keinen Winterschlaf hält, sondern wirklich nur im Winter lebt und im Sommer schläft.

Das hört man auch der Platte an. Ein kauziger Typ in einer Herbst/Winter Stimmung...

Pola: Der Großteil der Platte ist tatsächlich bei Jörg, der wirklich am Waldrand lebt, in Köpenick in seiner Wohnung entstanden im eisigen Winter. Der Ofen war noch nicht ganz an, es war einfach wirklich sehr kalt, als wir das aufgenommen haben.

Wie ist eure Zusammenarbeit entstanden? Ihr kennt euch schon länger?

Jörg: Wir kennen uns schon sehr lange. 12 Jahre, glaub ich. Als wir uns kennengelernt haben, haben wir auch gleich zusammen Musik gemacht. Aber dann haben wir uns für verschiedene Städte zum Leben entschieden und die Band, in der wir gespielt haben, ist auseinander gegangen. Wir hatten uns aber immer gegenseitig auf dem Schirm und wollten immer noch zusammen Musik machen. Dann kam der Erfolg von Pola mit Wir sind Helden, der die Zeit sehr knapp gemacht hat, ich habe mit Tele gespielt. Doch dann tat sich vor zwei Jahren so ein Fenster auf für uns beide. Zur gleichen Zeit hatten wir eine Pause in unserer Band und die haben wir sofort genutzt, um Musik zu machen.

Pola: Auch erstmal ganz absichtslos. Wir haben gar nicht geplant, dass wir eine Band oder sogar eine Platte machen. Es war eher so: Hey, lass uns zusammen in den Proberaum gehen, lass uns wieder zusammen spielen. Dann haben wir immer mal wieder zusammen Musik gemacht und irgendwann kam Jörg auf einmal mit den ersten Songs an und meinte: Ja, da müssen wir uns noch einen Sänger holen, aber wär doch geil, dann können wir die machen. Und dann hat er sie mir vorgesungen und vorgespielt und dann war mir sofort klar: Er muss die singen! Dann ging es ganz schnell. Es kamen ganz viele Songs und wir haben das innerhalb eines halben Jahres, in diesem einen Winter, geschrieben und aufgenommen.

Auf der Platte spielt Pola nur Schlagzeug und Jörg den ganzen Rest, von Gitarre bis hin zur Klarinette. Ein Multiinstrumentalist. War es denn so, dass du, Jörg, das Schlagzeug gebraucht hast oder hätte es auch eine Soloplatte werden können?

Jörg: Es ist alles andere als eine Soloplatte. Es ist tatsächlich unser Baby. Es mag vielleicht in die Irre führen, wenn man liest, dass ich alle Instrumente gespielt habe. Für mich ist es aber so, dass ich meine Stimme gar nicht gefunden hätte, wenn da nicht jemand gewesen wäre, der sie gehört hätte. Da war die Zusammenarbeit sehr eng. Ich hab ihn gebraucht, da er für mich die einzige Messlatte gewesen war und es war sehr schön, weil unser Ansatz war: Es geht uns nur darum, dass wir zusammen Musik machen und was finden, was uns beiden gefällt. Für mich war dann beim Schreiben immer die Überlegung da: Kann Pola damit überhaupt was anfangen? Dann sind die groben Ideen in den Proberaum gekommen und dann haben wir angefangen, das zusammen zu spielen. Völlig hanebüchen erstmal, wenn man den Mini-Disk hört, der nebenbei gelaufen ist, aber dann haben wir zusammen eine Vision für diese Musik entwickelt. Ich bin dann doch immer wieder in dieses Waldschrat-Kämmerchen gegangen, was man dieser Platte auch anhört. Mir ist tatsächlich ein Bart gewachsen, ich hatte die Jogginghose und einen Strickpulli an und hab von morgens bis abends mit meinen Instrumenten verbracht und hab da rumgespielt.

Die Musik von Per Anders ist eine ganz andere, als die von Tele oder Wir sind Helden. War es für euch eine Art Ventil oder ein Austoben, mal etwas anderes zu machen?

Jörg: Es war etwas sehr Natürliches. Ich würde nicht sagen, dass es eine Reaktion auf unsere Bands gewesen ist, sondern ein sehr Vorgang, der überhaupt keine Grenzen oder Ansätze hatte. In erster Linie war es unsere Ästhetik, der wir gefolgt sind. Auf der anderen Seite muss man schon sagen, wüsste ich jetzt nicht, warum es noch eine Band, die einer unserer beiden Bands ähnlich ist, geben sollte. Dann macht man doch lieber noch eine Platte mit Tele und eine mit Wir sind Helden.

Pola: Im nächsten Schritt muss man aber sagen, dass die Zusammenarbeit mit Per Anders den Sound der neuen Helden-Platte sehr beeinflusst hat. Viele akustische Elemente kamen auch dadurch, dass ich das mit Jörg gemacht hab und Judith das auch mitbekommen hat und bei einigen Songs auch mitgesungen hat. Zudem hat sie das auch irgendwie begleitet und sehr intensiv mitbekommen, wie das entstanden ist und hatte dann gleichzeitig eine Phase, in der sie sich sehr für solche Musik interessiert hat. Das hat dazu geführt, dass wir auf der Helden-Platte, auf der Jörg auch mitgespielt hat, diese Ästhetik auch reingetragen und die anderen Sachen befruchtet haben.

Welche Einflüsse stecken eigentlich genau in der Platte? Ich wusste nicht, wo genau ich es hinordnen sollte.

Jörg: Ich würde die Einflüsse auch nicht bei anderen Bands suchen. Pola hat immer mal wieder eine Band mitgebracht, wo er meinte, deine Stimme hört sich da ja an wie das hier. Meistens kannte ich die Sachen vorher gar nicht. Ein wichtiger Einfluss ist diese Zurückgezogenheit, der Raum, dieser Platz. Das war für mich ein unheimlich wichtiger Aspekt, dass ich sehr viel Raum hab, dass es nicht so schnell gehen muss, sondern es mit sehr viel Zeit und sehr viel Ruhe passiert. Der für mich wichtigste Einfluss war dieser Winter in Köpenick.

Auf dem Pressezettel wird die Musik ja als „Psychedelic Folk" beschrieben, was ich finde, vielleicht nur auf ein oder zwei Lieder zutreffen könnte. Ich hab mich da sehr schwer getan. Eigentlich ist das aber auch das Schöne daran, es nicht benennen zu können.

Pola: Es ist auch immer eine Reduktion, wenn man einer Band so ein Label geben muss. Die wenigstens Bands denken in solchen Kategorien, wir machen jetzt Funk-Rock und dann muss alles nur noch Funk-Rock sein. Die meisten, zumindest interessanten Bands haben Einflüsse, einerseits wo sie her kommen, andererseits was sie so aktuell geil finden. Es gibt ja auch immer Phasen, dann steht man total auf Synthies und alles muss Synthie sein und dann gibt's Phasen, da hat man genug davon und wendet sich davon ab. Dann gibt man dem ein Label. Das wird sich bei uns aber auch noch ändern. Wir arbeiten an der zweiten Platte, wir haben zumindest schon angefangen, die ersten Ideen zu sammeln. Das wird sich alles noch sehr verändern, aber ich bin gespannt, wo es noch hingeht. Dadurch, dass wir nur zu zweit sind, ist es ein sehr wendiges Fahrzeug. Da muss man dann nicht erst vier Leute davon überzeugen, dass das jetzt geil ist. Das ist dann eher: Hey, hast du da Bock? - Ja, ist geil! Und dann geht's los. Der wird noch einige Haken schlagen, der Herr Anders.

Wo du es schon ansprichst, wie es mit euch weitergeht. Eine zweite Platte ist geplant, aber Auftritte werdet ihr eher nicht haben. Stell ich mehr sehr aufwendig vor.

Jörg: Das wäre sehr aufwendig. Zum einen, wenn man es macht, dann will man es auch richtig machen. Es sind ja auch skurrile Besetzungen auf der Platte drauf, wenn man sich das so anhört. Bei ‚Stay There‘ bräuchte man drei Kontrabassisten, drei Klarinettisten, einen E-Bassisten und einen Schlagzeuger, wenn man das mal so präsentieren wollte. Das wäre recht aufwendig. Im Moment sind wir auf Tour und es passieren viele Dinge neben Per Anders. Da aber eben die nächste Platte ganz akut gemacht werden will, haben wir uns entschieden, wird das jetzt in diesem Winter passieren. Auch wieder ohne Vorzeichen, außer dass wir Musik zusammen machen und versuchen, was zu finden, was uns beiden gefällt. So geht's weiter: mit Musik machen.

Und nun zum Schluss: Wenn ein musikbegeisterter Mensch eure Platte in die Hände bekommt, wie sollte er mit Per Anders umgehen, bzw. wie möchte Per Anders, dass man mit ihm umgeht?

Jörg: Da die Musik so viel Zeit gekriegt hat, sich zu entfalten, ist es eine Platte, der es gut tut, wenn man sich Zeit für sie nimmt. Ich empfinde sie auch eher als Wohnzimmerplatte, die man Zuhause hört. Dass man sich ein bisschen Ruhe gönnt und sich die Platte reinzieht.

Pola: Es ist auch gut, wenn man sich ganz viele Platten kauft und sie nebeneinander hinstellt. Das gibt dann eine spezielle Energie, die dann sehr dicht wird.

Ich finde es aber auch eine sehr schöne Autofahrplatte.

Pola: Oh ja, sehr schöne Anregung: Beim Autofahrn.

Jörg: Ja, so bei Landschaften. Das stimmt. Oder Zugfahren.

Wer gerne selber im Wohnzimmer oder beim Autofahren sich in die Musik von Per Anders hineinhören will, der kann das Album in schöner habtischer Form über http://www.myspace.com/perandersmusic bestellen. Und nur dort! Sonst gibt es die Lieder über diverse Portale als mp3 zu erstehen.







AK-Anie 27.10.2010
immergut.blog.de

Per_Anders

Ihr fragt euch, wer oder was Per Anders ist/sind? Natürlich haben sie etwas mit Musik zu tun, sonst wären sie hier fehl am Platz. Details liefert Judith Holofernes in wunderschönen blumigen Worten:

"Gerüchtehalber ist Per Anders ein zweiköpfiges Wesen. Eine mythische Kreatur also, die (was erstaunen mag) sowohl dem eher unbärtigen Jörg Holdinghausen, Bassist der Band Tele ähneln soll, als auch dem überaus bärtigen Pola Roy, Schlagzeuger der Band Wir sind Helden. Und ja, das könnte doch auch beinahe Sinn ergeben, sind doch diese beiden seid vielen Jahren eng befreundet, und hat doch eben jener Jörg gerade eben erst auf der Platte von eben jenen Helden Bass gespielt.
Am Ende ist aber alle Spekulation müßig. Denn in Wirklichkeit ist Per Anders wer anders.
Per Anders, ich kann es nicht anders sagen, ist ein Waldschrat. Ein schroffer, melancholischer, einsiedlerischer Typ, der große Teile seines Lebens damit zubringt, in den nebelverhangenen Wäldern von, ja wirklich, Köpenick herumzustapfen. Und wenn ich ihm bei aller Schroffheit ein romantisches Herz unterstelle, dann ist das wohl am ehesten meiner eigenen romantischen Veranlagung zu zu schreiben. Ich hab's ja mit den wortkargen Typen.
Und sooft ich Per Anders am Waldrand besucht habe, kann ich doch nicht behaupten, ihn wirklich kennen gelernt zu haben. Wenn wir zusammen waren, dann haben wir gesungen. Und ich habe ihm nie wirklich viele Fragen gestellt - nach seinen Ausflügen in die Wälder, seinen langen Wanderungen, von denen er oft tagelang nicht zurückkam. Was ich weiß, ist das: wenn er dann wieder aufgetaucht ist, dann hat er sich in seine ofengeheizte kleine 60er Jahre Siedlungs-Wohnung eingeschlossen, und Songs geschrieben. Und diese Songs tragen all den Nebel dieser Wälder in sich, sie haben Raureif im Bart und weite Lichtungen im Herzen. Und manchmal kann man, wenn man genau hinhört, auch eine Wildsau hören, eine gesengte, die durch eben jene Lichtungen prescht, dann kann einem ganz anders werden. Und man fragt sich, was er da wohl gemacht hat, der Herr Per. Schilfhütten gebaut, wahrscheinlich. Elfen getroffen. Vielleicht auch Pilze gesammelt.
Mir ist es am Ende des Tages egal - so lange ich sowohl Mann als auch Freund heil wiederhabe. Und wenn wir - Pola, Jörg und ich - zusammen in Jörgs Küche sitzen, in Köpenick, dann erinnert dort kaum etwas an Per. Außer vielleicht, ab und zu, eine Wildsau. Im Augenwinkel. Und die wunderschöne Platte mit zarten, dunklen, winterigen Liedern, die im Hintergrund läuft."

Nachdem ihr jetzt einen Eindruck bekommen habt, wie die Songs von Per Anders im Wald von Köpenick entstanden sind, jetzt mein bescheidenes Urteil zum Klang des englischsprachigen Liedguts:

Die insgesamt zehn Stücke des Debütalbums sind irre vielfältig und liebevoll intoniert. Erinnert die Atmosphäre in "Stay There" noch an The Cure und der Gesang von Jörg an Robert Smith mit "glockigerer" Stimme, klingt Per Anders in "Hold me" faszinierenderweise wie eine Mischung aus Belle and Sebastian und Simon and Garfunkel und im Song "Twighlight" entführt Holdinghausen unterstützt durch Judith Holofernes in mir völlig unbekannte Sphären der Seensucht. Überhaupt kommt die Platte herrlich schwermütig daher. Wohl dosiert ist die Mischung aus Schmerz und Liebe genau das richtige für diese Jahreszeit und allgmeine Wendungen im Leben. Mal folkig bis mittelalterlich, immer angenehm basslastig und an den richtigen Stellen dank schöner zarter Gitarren- und Piano-Motive sowie zauberhaft gehauchtem Gesang herzerwärmend. Die sonnigen Momente werden eindeutig durch Lieder wie "Sun Son" oder "Hold Me" - einfach schön. Sollte die eigene Stimmung jedoch eh schon im Keller sein, kann Per Anders auch wie ein Goldener Schuss wirken. Also, drückt den Play-Knopf auf dem Abspielgerät eurer Wahl mit Bedacht! Sollte die Stimmung aber genau richtig sein - so in etwa mittig, zwischen sanfter Melancholie und völliger Entspannung - lehnt euch zurück und genießt die "wintrige" Entschleunigung.

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MusikLeben 4 - Alfred Zimmerlin


In: Dissonanz, Nr. 71, Oktober 2001




»Auf Zeichen unvermittelt abbrechen. Stille.«
Annäherungen an neuere Werke von Alfred Zimmerlin


/ Von Michael Eidenbenz

Eigenartig ambivalente Erfahrungen macht, wer Alfred Zimmerlins Musik erstmals begegnet. Einerseits zugänglich, klanglich auf Anhieb faszinierend, irritiert sie anderseits Hörerwartungen immer aufs Neue, setzt unreflektiert eingetretene Nähe wieder auf Distanz, verweigert sich schneller emotionaler Identifikation. Zwar findet das faszinierte Ohr sehr wohl Ordnungen in all den bisweilen üppig, ja geradezu verschwenderisch hereinbrechenden Klangerfindungen, doch eine dahinter steckende Systematik ist kaum zu erkennen. Klarheit, die die Faktur von Zimmerlins Musik ausstrahlt, wird kompliziert durch die nicht leicht durchschaubaren Gleichzeitigkeit von Verschiedenem. Und schon gar lösen sich von traditionellen Hörhaltungen ausgehende semantische Deutungen in Luft auf, kaum glaubt man, sie gefunden zu haben. Das abrupte Ende von In Bewegung (Nature Morte au Rideau) für Klavier, 13 Solostreicher und Zuspiel-CD etwa, ein Abbrechen einer eben erst lancierten Beschleunigungsbewegung des Solo-Klaviers: Soll es schockartig wirken? Ist es ein Beispiel für die so oft komponierte Kategorie der «vergeblichen Bemühung»? Eine Katastrophe womöglich gar? Eine Darstellung des Scheiterns als finale Konklusion eines knapp 20minütigen Dramas?– Nichts von alledem scheint passend als Deutung für dieses Ende. Gemäss des Komponisten mündlichem Kommentar hört das Stück hier eben «einfach auf. Wer als Zuhörer nun noch ein Allegro barbaro oder ähnliches erwartet, kann sich dieses ja selber vorstellen. Ich bevorzuge die offen gebliebenen Möglichkeiten...». Keine lineare Entwicklungsstrategie kann hier herausinterpretiert werden, kein Rollendrama hat sich ereignet. Und doch ist mit diesem Klavier während des zweisätzigen Stücks ganz offensichtlich etwas passiert. Um zu erfassen, was dies ist, empfiehlt sich freilich weniger der feuilletonistisch zuspitzende Jargon als ein genauer Blick auf die Musik.

Frequenzmodulationen

Eine einfache Einleitung von 19 Takten eröffnet den musikalischen Raum. Vereinzelte Klaviertöne, liegende Streicherklänge bestimmen ihn, eine langsame und genaue Rhythmik führt zu einem ersten vollen Akkord. Die Töne sind offensichtlich einer – nicht als Ganzes erkennbaren – Reihe entnommen, der sammelnde Akkord baut auf einem modulierten Obertonspektrum über E auf. Doch dieser scheinbar so klare Eröffnungsgestus erfährt schon mit den ersten Takten auch Irritation: Gleichzeitig mit der metrischen Klarheit wird ein zweiter Zeitfluss etabliert durch leise raschelndes Klöpfeln der Geigen und Bratschen, die mit der Bogen-Spannschraube leicht auf den Saitenhalter klopfen, geräuschhaft und metrisch vollkommen unabhängig vom tonfixierten restlichen Geschehen. Dieser zweite Raum bleibt offen, während nach den ersten 19 Takten nun auch die «Ton-Musik» in Bewegung gerät. über bewegt rhythmisiserten Zweiklängen der Streicher erfolgen virtuose Einwürfe des Klaviers, Frequenzmodulationen der Zweiklänge in – die Frequenzproportionen logarithmisch umwandelnden – Zeitverläufen. Gegen Ende des ersten Satzes wird sich diese Relation umgekehrt haben: Die Zweiklänge liegen jetzt im Klavier, die Frequenzmodulationen bilden den harmonischen Streicherteppich. Gleichzeitig tauchen aber noch weitere Elemente auf: Sukzessive Streicherglissandi etwa, Ausschnitte aus modalen Skalen im Klavier und in den Streichern, als kurze Einwürfe aufblitzend oder gedehnt über weite Strecken in den tiefen Streichern; zusehends auch Geräuschhaftes, reine Streichgeräusche auf dem Steg, col-legno-Tupfer, Pizzicati, die ihre Tonhöhe in schnellem Glissando sofort verlassen. Diese ganz auf heterogenen Techniken fussenden Geschehnisse sind nicht durch ein Prinzip konstruktiv miteinander verbunden, sondern ereignen sich quasi in arbiträrer Gleichzeitigkeit. Dabei ergeben sich höchstens kurzfristig wechselseitige Dialoge, kleine lokale Geschichten, auch klangliche überlagerungen, Konfrontationen der stufenlosen Glissandotöne mit den unverrückbaren Tonhöhen des Klaviers, an deren temperiertes System auch die modulierten Frequenzen angepasst wurden.

Wahrnehmungsmodulationen

Während im ersten Satz bereits die Streicher fixierte Tonhöhen in verschiedene Richtungen verlassen haben, gerät im zweiten nun auch das Klavier unmerklich in klangliche Verflüssigung, wird auf die gegebene Natürlichkeit seines Klangs befragt. Nicht Verfremdung, nicht Kritik an den begrenzten und durch die Tradition längst vorbelasteten Möglichkeiten ist dabei das Ziel, es wird auch nicht mit unkonventionellen Spielpraktiken experimentiert. Vielmehr geht es darum, den Klavierklang gleichsam zu befreien, dessen «reine Wahrnehmung» möglich zu machen. Zunächst wird das Ohr verblüfft. Mit Beginn des zweiten Satzes erklingt ab Zuspiel-CD ein minimal gegen den ersten verstimmter zweiter Flügel aus Lautsprechern, die so aufgestellt sind, dass sie nicht sofort als Tonquelle identifizierbar sind. Das eingespielte und das konzertierende Klavier begegnen sich überlagernd mit höchst dramatischem, stark kontrastierendem, signalhaftem Material. Kaskaden von Oktavintervallen, Triller und Pendelbewegungen, schroffe Akzente und melodische Bruchstücke prallen in heftiger Gestik aufeinander, während dieser – ihrerseits verschiedene Zeitflüsse aufschichtenden – Klavierverdoppelung und unabhängig von ihr eine Unisono-Streichermelodie in teilweise mikrotonaler Skalenbewegung beigefügt ist. Der eingespielte Klavierpart mündet schliesslich, als ob eine Türe ins Freie aufgestossen würde, in ein anwachsendes, sämtliche vorangegangenen Obertonfinessen aufhebendes, sie gleichsam verschluckendes Rauschen, während in diesem Augenblick auch das konzertierende Klavier sich von aller Determination löst und zu improvisieren beginnt, quasi befreit seinen eigenen Zeitfluss findet. Das Rauschen verebbt, die Streichermelodie ist auch an ihr Ende gelangt, und nun kippt das Klavier wieder zurück aus seiner improvisatorischen Freiheit in ein streng komponiertes, mit seinem Skalen- und Accelerando-Prinzip klar fassliches kurzes Stück Musik. Dessen Gestik gleicht den ersten Einleitungstakten, doch die Hörer-Wahrnehmung ist nun eine andere geworden. Die Modulationen, denen die Klänge unterworfen worden sind, führen dazu, dass der reine, gewöhnliche Klavierklang nunmehr gleichsam entkleidet da steht. Die Zeitschichtungen und die zuletzt durchs Tonbandrauschen weit geöffneten Klangräume lassen nach ihrem Wegfallen das Klavier in einem konzentrierenden Fokus erscheinen. Sein Klang hat sich nicht verändert, aber dessen Wahrnehmung ist transformiert worden. Was es jetzt noch spielt, ist unprätentiös, es könnte genauso gut auch etwas anderes sein, schlichte Klaviermusik, die irgendwann «einfach aufhört».

Diese ausführliche (und trotzdem natürlich noch immer verkürzende) Schilderung eines einzelnen Werks mag umständlich erscheinen, nötig ist sie doch, da sie verschiedene Elemente enthält, die für Zimmerlins Schaffen charakteristisch sind. Da ist zum Beispiel das Prozesshafte, das keine lineare Geschichte erzählt, aber eine Bewegung etabliert, die ins Innere eines beobachteten Objekts, hier des Klavierklangs, führt. Und da ist die Klarheit, die diesem Blick eigen ist: Zimmerlins Musik ist nie nebulös; falls jener Blick ins Innere metaphysisch genannt werden kann, so entwächst er nie diffuser Spekulation, sondern genauer Beobachtung. Da ist auch die Gleichzeitigkeit verschiedener Zeitschichtungen, ein von Zimmerlin oft kompositorisch behandeltes Thema, zu dem er sich vor allem in seinem Klarinettenquintett explizit Gedanken macht: Wie Zeitdimensionen offen gelassen werden können, wie sich individuelle Zeitorganisationen improvisierender Musiker zur kontrollierten komponierten Zeit verhält, wie Polymorphie von Zeitstrukturen mit allen Facetten gestaltet werden kann, das behandeln die sieben Sätze des Klarinettenquintetts mit gleich viel akribischer Gewissenhaftigkeit wie erfinderischer Fantasie . Und da ist schliesslich die Freiheit der offen gelassenen Möglichkeiten, der Verweigerung konstruktiver Gängelung. Dem 1955 geborenen und in Musikwissenschaft und Musikethnologie an der Universität Zürich ausgebildeten Alfred Zimmerlin scheint kaum etwas mehr künstlerisches Unbehagen zu bereiten als der Verlust frei wählbarer Möglichkeiten. Mag sein, dass hier die schweizerische Herkunft eine Rolle spielt, die seine Neugier gleichermassen auf kulturelle Phänomene Frankreichs wie Deutschlands ausrichtet. Ganz bestimmt aber wirkt sich hier beim Komponisten eine elementare Erfahrung des Improvisators Zimmerlin aus: Improvisierte Musik wird augenblicklich langweilig, wenn Reaktionen gefesselt werden und nur noch eine einzige Möglichkeit offen lassen.

Ohne Betroffenheitsgestik

Die Idee, verschiedenste konstruktive Systeme gleichzeitig einzusetzen, so dass keines von ihnen zum dominierenden Prinzip werden kann, taucht denn auch seit längerem in Zimmerlins Werken auf. So wenig wie hier logarithmische Berechnungen, Frequenzmodulationen oder Skalenbildungen Exklusivanspruch auf den inneren Zusammenhalt des Stücks erheben, so wenig ist beispielsweise in Paysage bleu (2000) für Chor, Orchester und Zuspiel-CD die das Stück beendende All-Intervallreihe der Flöte von konstruktiver Funktion. Und wenn im Klavierstück 5 (1992) die zweigestrichene Oktave mikrotonal so umgestimmt wird, dass gewisse reine Ober- bzw. Untertonintervalle gespielt werden können, so geht es durchaus nicht darum, ein neues «Reinstimmungs»-System zu etablieren. Die Gleichzeitigkeit verschiedener Systeme hat vielmehr den Zweck, Heterogenes zuzulassen, zusammen zu bringen zu einem Ganzen, Verschiedenes zu integrieren, nicht auszuschliessen oder gar zu eliminieren. Ein lineares Drama lässt sich in einem Raum, in dem «alles» Platz hat, aber nicht erzählen, ja wird gerade dadurch explizit verhindert: Ein solcher Raum könnte sich unendlich weiter ausbreiten, die Klangereignisse sind – so lange die Fantasie des Komponisten ausreicht – beliebig erweiterbar, keines von ihnen kann eine Protagonistenrolle mit individuellem Schicksal einnehmen. Die kurzfristig hochexpressiven und temperamentvollen Gesten heben sich gleichsam gegenseitig auf. Die Neutralisation der subjektiven Betroffenheitsgestik ist letztlich ein Ziel dieser Musik. Subjektivität kann sich aus der Musik entfernen, indem der Komponist auf steuernde Werkzeuge möglichst ganz verzichtet oder eben auch – bei Zimmerlin –, indem die Zahl der Werkzeuge theoretisch beliebig gross gewählt wird.

Körperliche Klänge

Wo freilich die Werkzeuge beliebig sind, droht auch das Material beliebig zu werden. Dass dieses verbindlich bleibe, kann durch zwei Dinge garantiert werden: Durch die Form und durch das verlässliche kontrollierende musikalische Ohr. über letzteres verfügt der Komponist, der selber musiziert: Alfred Zimmerlin tritt seit je als improvisierender Musiker in verschiedensten Formationen auf und hat dabei ein feines Sensorium für die energetische Kraft, für Spannungen, reaktives Verhalten, für die Körperlichkeit eines Klangs im Raum beim Live-Auftritt entwickelt (letzterem mag auch die Tätigkeit des Musikkritikers Zimmerlin förderlich sein, dem der Unterschied zwischen live gespielter und konservierter Musik alltägliche Erfahrung ist). Das Ohr als Kontrollinstanz spielt dort die gewichtigste Rolle, wo nicht nur Systeme, sondern auch das gestische Material extrem heterogen gewählt ist. Der erste Höreindruck von Weisse Bewegung (1998) beispielsweise hinterlässt zu Beginn zunächst Ratlosigkeit. Die gestisch und klanglich denkbar isolierten Brocken, die Violoncello, Klavier und Schlagzeug hier einwerfen, scheinen in keinerlei nachvollziehbarer Relation zueinander zu stehen, selbst der dramatische Effekt des Zusammenprallens von Disparatem scheint keine Tendenz zu verfolgen. Allmählich erst (Weisse Bewegung ist mit 37 Minuten eine von Zimmerlins auführlichsten Kompositionen) ist die Vielschichtigkeit der Spannungsrelationen zu erkennen. Und mit zunehmender Dauer des Stücks stellt sich auch genau diese «Tendenzlosigkeit» als sinnhaft heraus, das auf Ordnung erpichte Ohr ist aufgefordert, von der ersten emotionalen Klangfaszination wieder Abstand zu nehmen und sich in dieser von Dingen aller Art besetzten Landschaft frei zurecht zu finden.

Im zweiten Satz von Weisse Bewegung taucht dann aber auch jene Form auf, die Zimmerlin oft zur Kontrolle über das quantitative Gleichgewicht verwendet (sie bestimmt u.a. auch im zweiten Satz von In Bewegung (Nature Morte au Rideau) die beiden Klavierpartien). Zimmerlin nennt sie – durchaus wortspielerisch – «Lohse»-Form. Er bezieht sich damit auf gewisse Bilder Richard Paul Lohses, auf denen einzelne Farbflächen zwar eigengesetzlich, ohne determinierte Beziehung zueinander, doch so angeordnet erscheinen, dass in der Summe von jeder Farbe die gleiche Fläche eingenommen wird. Was also als zerklüftete Folge disparater Einzelereignisse wahrgenommen wird, erweist sich in seiner Ganzheit als Fläche, als «Leinwand», deren Flächendimension theoretisch beliebig gross sein kann, jedenfalls nicht von zielgerichteter Entwicklung zu einem dramaturgisch voraussehbaren Ende determiniert wird.

Das metaphorische Stichwort der «Leinwand» ist für Zimmerlins Musik in mehrfacher Hinsicht bedeutsam. Eine ganze Reihe von Werktiteln spielt auf Paul Cézanne an: In Bewegung (La Montagne de Sainte-Victoire), In Bewegung (Nature morte au Rideau), Paysage bleu, In Bewegung (La pendule de marbre noir). Natürlich aber sind die dazugehörigen Stücke keine «Bilder einer Ausstellung», es geht auch nicht um die musikalische Transkription von Stilmitteln bildender Kunst in der Art des Impressionismus. Die beigefügten Bildertitel verweisen vielmehr auf den Blick des Malers, der – im Falle von Cézanne und La Montagne Sainte-Victoire mit geradezu obsessiver Wiederholung – sein Objekt gleichsam durchdringt, indem er es darstellt. Farbe und Form sind sein Material, der Zielpunkt des Blicks jedoch liegt im Inneren des Objekts, dort wo es nicht mehr materiell fassbar ist. Analog dazu ist kompositorisches Material auch für Alfred Zimmerlin Mittel und nicht endgültiger Zweck. Ob er nicht offen gelegte Reihen verwendet oder Ausschnitte aus seinem eigenen Kompendium gruppierter modaler Skalen (Braus für Blockflöte und Tonband etwa beruht wesentlich auf einer heptatonischen, im Abstand einer kleinen Septime repetierenden Skala): Es ist immer Werkzeug und nicht Sinn.

Das hat nichts mit Geringschätzung zu tun: Material ist kostbar, bestimmt oft die kompositorischen Fragestellungen (deutlich etwa im Clavierstück 4, in dem abschnittweise kompositorische Probleme wie Klangmutationen, gezielte Beschränkung auf bestimmte Intervalle oder einzelne Akkorde, Oktavfixierungen gewisser Töne gleichsam unter der Lupe betrachtet werden). Material ist aber immer auch historisch vorbelastet: Dass Komponieren den Umgang mit Geschichte, mit geschichtlichen Zeiten bedeutet, ist für Zimmerlin eine Selbstverständlichkeit. Die Materialien repräsentieren für ihn die Spuren einer «Zeitsäule», an deren Spitze das Stück in seiner Gegenwart steht. Gegenwart ist daher auch immer heterogen! Beispielhaft für die Erfahrung der Zeitsäule mögen die Neidhartlieder für Sopran, vier Renaissance-Blockflöten und Zuspielband, uraufgeführt an den 3. Internationalen Blockflötentagen in Basel und wiederholt in Kairo, stehen: Wie viereinhalb Jahrtausende Vergangenheit in einer Stadt mit einer Vitalität sondergleichen präsent sein können, hat Zimmerlin bei einem einmonatigen Aufenthalt in Kairo selber erfahren. Seine Neidhart-Lieder spiegeln diese Erfahrung, indem sie durch Minnelieder Neidharts von Reuental die eigene kulturelle Vergangenheit mit zeitgenössischen Gedichten Ingrid Fichtners verbinden, durch die Verwendung von Renaissance-Instrumenten weitere Historie einflechten und sich damit an die besagte Zeitsäulen-Spitze stellen.

Eine besondere und in Zimmerlins neueren Werken sehr oft verwendete Kategorie belasteten Materials ist schliesslich der Klang der Umwelt. Seit dem Klarinettenquintett (1990) tauchen immer wieder Bandeinspielungen mit konkreten Geräuschen alltäglichen Lebens in seinen Kompositionen auf. Beim Klarinettenquintett wird zuletzt eine im Freien aufgenommene Reprise des Anfangs mit diversen Zivilisationsgeräuschen eingespielt, was die Idee der zyklischen Wiederkehr – ihrerseits eine historisch-traditionelle Idee – in einen anderen Raum transformiert. In Zerstreut in Arbeit mit Wörtern für Sopran, Klavier und Tonabnd sind es Stadtgeräusche – Kinderlachen, Verkehr, Glockenschlagen, Regen – eines ganzen Tageszyklus', die komprimiert auf die Dauer des Stücks sozusagen ein Fenster offenlassen, vor dessen Hintergrund die artifiziellen Klänge des Klaviers und die gesungenen Texte Elisabeth Wandelers in ein urbanes Biotop gestellt erscheinen. Und in Braus für Blockflöte und Tonband sind neben dem elektronischen «Braus» auch Naturgeräusche, Vogelstimmen, das Nagen von Bibern (welches mit einem Heinrich-Ignaz-Franz-Biber-Zitat zu verknüpfen Zimmerlin sich nicht nehmen liess) zu hören.

Derartige im Konzert-Kontext fremde Klänge umgeben die Komposition mit neuer Raumwirkung, öffnen akustisch das Dach und die Wände des Konzertsaals und geben den Blick in die äussere Welt frei. Und da die «biotopischen» Klänge im Verhältnis zu den komponierten offenkundig zufällig sind, wirken sie auch befreiend: Die artifizielle Komposition tritt derweil in den Hintergrund, wird manchmal auch zugedeckt oder verschluckt, stellt das Selbstverständnis ihrer Notwendigkeit auch ein Stück weit in Frage. Der Effekt für den Hörer ist dabei – und das gilt auch für die kontinuierlichen, elektronisch hergestellten Rauschen von In Bewegung (Nature morte au Rideau) oder Paysage bleu –: Entlastung, Leichtigkeit, Schönheit, Stille. Alfred Zimmerlin vergleicht sein Komponieren mit der Vorstellung eines Raums, der voll verfügbaren heterogenen Materials ist. Hinter diesem Raum aber ist ein anderer Raum zu sehen, ein Ort, wo etwas zum Stillstand gekommen ist. Zu erreichen ist dieser andere Ort nicht, er bleibt immer in Bewegung, aber der Blick auf ihn ist möglich, wenn das Material zur Seite geräumt ist. Nicht der Weg dorthin wird komponiert, keine bildhaften Geschichten werden erzählt, die Modulation des Klaviers in In Bewegung (Nature morte au Rideau) ist nicht das dargestellte Gleichnis für diesen Weg. Aber vielleicht ereignet sich der Weg ja in jenem Schlussmoment, wo das Klavier so unvermittelt abbricht. Vielleicht fallen genau hier diese zwei Zustände in eins: In Bewegung. Stille.


In: Dissonanz - Schweizer Musikzeitschrift für Forschung und Kreation, Nr. 71, Oktober 2001

 

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